6. Richard Brautigan erfindet das Internet

 
 
Die Leute, die dieses Buch gelesen haben,
haben ein seltsames Lächeln auf dem Gesicht.
Rolling Stone
I ... found this frothy fiction to be a waste of time to read, a waste of money to pay for, and a waste of space on the library shelf.
Joseph W. Sprug in: Catholic Library World, April 72, p.474-77
Die Meinungen über »The Abortion: An Historical Romance 1966« gehen etwas auseinander, das wird Richard Brautigan in den 70ern mit seinen Büchern noch häufiger passieren. Vielleicht bildest du dir völlig unbeeinflusst deine eigene Meinung über dieses wunderbare Buch;-)
Vida
...
Sie hatte ein unglaublich zartes Gesicht, wunderschön, und langes schwarzes Haar hing um ihre Schultern wie Fledermausblitze, aber da war noch etwas ...
»Hier ist mein Buch«, sagte sie.
...
»Wovon handelt es denn?« fragte ich; ich hielt das Buch in der Hand und spürte, wie etwas fast Feindseliges von ihm ausging.
»Es handelt von dem da«, sagte sie, und plötzlich knöpfte sie, fast hysterisch, ihren Mantel auf und riß ihn auf, als wäre er die Tür zu einem schrecklichen Keller voller Folterinstrumente, Schmerzen und unerhörten Geständnissen.
Sie hatte einen blauen Pullover an, einen blauen Rock und diese schwarzen Lederstiefel, wie man sie heute trägt. Sie hatte einen phantastisch vollen und entwickelten Körper unter ihren Kleidern, bei dessen Anblick die Filmstars und Schönheitsköniginnen und Revuemädchen vor Neid bittere Schminke abgesondert hätten.
Ihre Formen waren zum Äußersten dessen entwickelt, wovon der Mann der westlichen Hemisphäre in unserem Jahrhundert träumt, die großen Brüste, die winzige Taille, die vollen Hüften, die langen Playboy-Möbelbeine.
Sie war so schön, daß die Werbeleute einen Nationalpark aus ihr gemacht hätten, wenn sie sie in die Finger bekommen hätten. Auf einmal strudelte es in ihren Augen wie in einem Tümpel, und sie fing an zu weinen.
»Das Buch ist über meinen Körper«, sagte sie. »Ich hasse ihn. Er ist zu groß für mich. Er gehört jemand anderem. Nicht zu mir.«
Ich langte in meine Tasche und holte ein Taschentuch und einen Schokoladenriegel heraus. Wenn jemand Kummer hat oder Sorgen, dann sag ich ihm immer, daß alles gut werden wird, und geb ihm einen Schokoladenriegel. Das verblüfft die Leute, und es tut ihnen gut.
»Es wird alles gut werden«, sagte ich.
Ich gab ihr ein Milky Way. Sie hielt es in ihrer Hand und starrte es verblüfft an.
Aus: Richard Brautigan, Die Abtreibung: Eine historische Romanze 1966, S. 33-36, Rowohlt
Nachdem du dir völlig unbeeinflusst deine Meinung über »Die Abtreibung« bilden konntest, kann ich dir ja sagen, dass es Richard Brautigan in diesem Buch gelingt, eine wunderbare Liebesgeschichte mit dem Thema Abtreibung zu verbinden. Das klingt unglaublich, nicht? Aber bei Richard Brautigan ist vieles unglaublich, z.B. erfindet er in diesem Buch das Internet.
Die Bibliothek
...
Wir verwenden weder Deweys Dezimalklassifikation noch irgendein anderes Katalogisierungssystem, um unsere Bücher zu registrieren. Wir verzeichnen ihren Eingang in der Bibliothek im Bibliotheks-Hauptkatalog, und dann geben wir das Buch dem Autor wieder zurück, und es steht ihm frei, es überall in der Bibliothek, wo er nur will, einzustellen, ganz gleich, in welches Regal. Wo es ihm eben gefällt.
Es kommt überhaupt nicht darauf an, wo ein Buch steht, weil nie jemand zum Lesen kommt. So eine Bibliothek ist das hier nicht. Dies ist eine andere Bibliothek.
Aus: Richard Brautigan, Die Abtreibung: Eine historische Romanze 1966, S. 18, Rowohlt
Als die Leute des ARPA-Forschungsprojekts sich in den 60er Jahren daran machen, die Grundlagen für das Internet zu schaffen, haben sie solch seltsame Ideen wie die Nutzung des Netzes für die Kommunikation im militärischen Notfall oder in Friedenszeiten die Möglichkeit des schnellen Austauschs von Forschungsergebnissen.
Richard Brautigan stellt sich in »Die Abtreibung« eine Bibliothek vor, zu der jedermann das bringen kann, was er für aufschreibenswert hält. Dies wird in einem zentralen Katalog festgehalten, und dann taucht das Geschriebene ungelesen in einem riesigen Fundus unter. Wer ist näher dran?
Übrigens gab's tatsächlich mal von 1990 bis 1996 eine Bibliothek in Burlington (Vermont/USA), die Richard Brautigans Idee in die Realität umsetzte. Genug von Bibliotheken, ab ins Kino ...
Weiter mit der siebten Erdbeere: Richard Brautigan zeigt Kino im Kopf