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Der erste Eintrag ins Tagebuch
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Der erste Eintrag ins Tagebuch
Er schloss die Wohnungstür auf. Die Wanduhr zeigte 18 Uhr 45.
Und wieder einmal geschafft: Viertel vor sieben. Willkommen zu Haus.
Die Aktentasche legte er auf den Korridorschrank, zog Jacke und Schuhe aus, wusch sich die Hände und ging in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank, klappte das Tiefkühlfach auf.
Was hätten Sie denn heute gern: Pizza, Lasagne, Fisch, Geflügelsticks? Haben Sie viel Hunger oder wenig Hunger? So dazwischen würde ich sagen. Aha, so dazwischen. Das hört sich nach Süppchen an.
Er schaute in den Küchenschrank und entschied sich für eine Dose Reissuppe mit Huhn.
Sie entscheiden sich für das Menue Schnell-fertig-und-runter-damit? Ja, genau. Warum, wenn ich fragen darf? Sie dürfen. Weil es schnell fertig ist und schnell runter geht.
Er leerte die Dose in einem kleinen Topf, stellte die Herdplatte an. Dann holte er Teller und Löffel aus dem Küchenschrank. Schließlich begann die Suppe zu brodeln. Schnell schaltete er die Herdplatte ab und schüttete die Suppe auf den Teller. Er nahm ein Geschirrtuch, um den Teller zu halten und aß im Stehen.
Nach dem Essen stellte er Topf und Teller ins Spülbecken. Er ging ins Wohnzimmer, ließ sich ächzend in einen Sessel fallen und schaute auf seine Armbanduhr: 19 Uhr 23.
Noch zwei Stunden. Was mache ich bis dahin? Ein bisschen fernsehen, ein bisschen lesen? Hab ich Lust zum Fernsehen oder zum Lesen? Nein.
Per Fernbedienung schaltete er den Fernseher ein: Serie, Werbung, Lokales, Quiz, Nachrichten, Werbung, Serie, Quiz, Quiz, Rugby, Fußball, Werbung, Musik, Musik, alte Serie, steinalte Serie, Werbung, Quiz, Tierfilm, Werbung, Serie, Werbung und noch mal von vorn. Nach der dritten Runde schaltete er aus.
Er griff zum Fernsehprogramm, studierte die Sendepläne sämtlicher Sender für den Abend und legte die Zeitschrift mit einem Seufzer wieder beiseite.
Also Fernsehen fällt heute aus wegen Kommtnix. Fiel Fernsehen nicht schon gestern aus dem gleichen Grund aus? Vielleicht sollte ich mal einen geharnischten Protestbrief an all die Sender schicken, so à la warum verschwenden Sie die Gebühren, die ich nicht zahle, für solch einen Mist? Ja, das sollte man vielleicht mal tun. Sollte man vielleicht. Man. Irgendwer.
Er schaute auf seine Uhr: 19 Uhr 29.
Immer noch zwei Stunden. Was nun? Musik?
Er erhob sich aus dem Sessel und suchte seinen CD-Turm ab. Schließlich entschied er sich für eine Chris Rea-CD. Er schaltete die Anlage ein und drückte auf den Knopf für die CD-Lade. Sie kam herausgefahren, er legte die CD ein, die Lade schloss sich. Ein Gitarrenintro begann, er stellte etwas leiser und setzte sich wieder.
Und jetzt? Wie mag der Herr den Abend bis um halb zehn gestalten? Was liegt eigentlich morgen an? Ist morgen nicht ...?
Er schaute auf die Uhr. Die Datumsanzeige zeigte den fünfundzwanzigsten.
Ja. Morgen ist Stadtblatt-Tag. Welch eine Freude. Mal sehen, mit welchen Anzeigenkunden der Chef dieses Mal angewackelt kommt. Ob der Typ noch zu toppen ist, der wegen der Vielfalt fünf verschiedene Schriftarten in seiner Anzeige wollte? Nein, ich brauche ganz dringend eine Krankheit. Ich sollte zum Arzt gehen. Da gehen doch alle Leute mit ihren Krankheiten hin. Vielleicht hat er eine über und schenkt sie mir.
Er schaute sich nach dem Buch um, das er am Wochenende zu lesen begonnen hatte. Das Buch lag auf dem Fernseher. Er schaute hinüber, blieb sitzen und sah hinaus. Ein Vogel kreiste am Himmel.
Einfach nur so herumkreisen, was für ein Leben. Aber warum macht er das? Hat das irgend einen praktischen Nutzen oder hat er Spaß daran? Kann ein Vogel Spaß haben?
Er beobachtete den Vogel bis dieser außer Sichtweite geriet. Dann holte er das Buch, konnte sich aber nicht aufs Lesen konzentrieren. Immer wieder warf er einen Blick aus dem Fenster. Nach drei Seiten gab er auf und schaute auf die Uhr: 19 Uhr 54.
Noch eineinhalb Stunden.
Er sah wieder hinaus. Für kurze Zeit drang die Musik an sein Ohr, dann schweiften seine Gedanken ins Nichts. Als er ein weiteres Mal auf die Uhr schaute, war es kurz vor acht. Er schaltete den Fernseher ein und ließ Chris Rea in Konkurrenz laufen.
Im Anschluss an die Nachrichten drehte er noch mal einige Runden durch die Programme, blieb bei einem Fußballspiel hängen. Ohne großes Interesse verfolgte er das Spiel. Nach zehn Minuten wurde es ihm zu langweilig, er sprang wieder durch die Sender und schaltete schließlich aus.
Er schaute auf die Uhr: 20 Uhr 32.
Noch eine Stunde.
Er stand auf, ging in die Küche, räumte das Geschirr aus dem Spülbecken und ließ Wasser einlaufen. Er gab Spülmittel dazu und beobachtet die wachsenden Schaumberge.
Das Telefon klingelte. Er lauschte. Das Telefon klingelte erneut. Er drehte den Wasserhahn zu, ging in den Korridor und nahm den Hörer ab.
"Burowski."
"Wer ist da bitte?", sagte eine Frauenstimme.
"Hier ist Burowski", wiederholte er.
"Oh, Entschuldigung. Entschuldigen Sie vielmals. Da habe ich mich verwählt."
"O.K.", sagte Burowski und legte auf.
Er ging zurück in die Küche, ließ noch Wasser ein und stellte das Geschirr der letzten Tage ins Becken.
"Burowski." "Wer ist da bitte?" Ihre Stimme hat weder alt noch jung geklungen. 35? 40? Etwas süddeutsch. "Hier ist Burowski." Kein Vorwurf in der Stimme. Klar, sie hatte sich verwählt. Ich wette, dass ist ihr mit der Frage bewusst geworden, aber da war die Frage schon raus. Oder gehört sie zu denen, die sich einen Fehler nicht eingestehen können? Ist sie so eine? Tut mir leid, ich muss Ihren Heiratsantrag abschlägig bescheiden. Andrerseits: "Oh, Entschuldigung. Entschuldigen Sie vielmals. Da habe ich mich verwählt." Das hat nicht nur höflich geklungen, sondern wirklich nach Bedauern. Obwohl, manche können das und in Wahrheit tut ihnen nichts leid. Nein, Ihr Heiratsantrag ist mir zu unsicher. "O.K." Was ist die korrekte Antwort auf 'Entschuldigung'? 'Keine Ursache'? 'Bitte'? Warum 'Bitte'?
"Burowski." "Wer ist da bitte?" "Hier ist Burowski." "Oh, Entschuldigung. Entschuldigen Sie vielmals. Da habe ich mich verwählt." "O.K." ...
Burowski spülte das Geschirr, ließ das Wasser ablaufen und trocknete ab.
Mit einem Glas Mineralwasser ging er ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und schaute auf die Uhr: 20 Uhr 56.
Noch eine halbe Stunde. Wann hat Chris Rea aufgehört? Schon während des Fernsehens oder beim Spülen? Ich habe es nicht gemerkt. Dieser Anruf hat mich ganz durcheinander gebracht. Wann hat zuletzt jemand angerufen? Letzte Woche irgendwann. Die Frau, die mir ein Abo anbieten wollte. Nein, sie wollte mich einladen zu einem Probeabo. Einladen. Das ändert nichts daran, dass solche Anrufe verboten sind. Bei der nächsten, die anruft, muss ich das mal sagen. Wenn sie mir nicht so leid tun würden. Sie können nichts dafür, ist nur ein Scheißjob. Heute verwählt. Besser als nichts. Vielleicht kommt schon morgen ein richtiger Anruf.
Burowski trank einen Schluck. Langsam dämmerte es.
War das der gesellschaftliche Höhepunkt des Abends? Scheint so, wenn nicht noch ein Wunder passiert. Kann ich mich beschweren? Nein, kann ich nicht. Ich habe einen Job, ich verdiene Geld, das Geld häuft sich auf der Bank, ich habe keine Zeit, es auszugeben. Das ist normal. Und sonst? Bin ich etwa einsam? Ja, ich bin einsam. Will ich etwas dagegen tun? Nein, ich will nichts dagegen tun. Ich warte ab, ob was passiert, und wenn nichts passiert, dann eben nicht. Ist das alles? Ja, Euer Ehren, das ist alles. Selbsterkenntnis ist nicht der erste Schritt zur Besserung, Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Selbsterkenntnis. Hugh, Chief Burowski haben gesprochen.
Burowski trank das Glas aus und guckte auf die Uhr: 21 Uhr 14.
Noch eine Viertelstunde.
Er brachte das Glas in die Küche. Dann ging er ins Schlafzimmer und legte die Sachen für den morgigen Tag zurecht. Aus seiner Aktentasche im Korridor nahm er einen Brotbeutel und legte ihn auf den Küchentisch.
Wieder schaute er auf die Uhr: 21 Uhr 18.
Zu früh.
Burowski ging ins Wohnzimmer und stellte sich ans Fenster. Ein glatzköpfiger Mann aus der Nachbarschaft, den er vom Sehen kannte, führte seinen Hund aus. Der Hund schnupperte an jedem Baum. Der Mann zog ihn immer wieder ungeduldig fort.
Burowski sah auf die Uhr: 21 Uhr 23.
Was soll's. Auf geht's.
Er verließ das Wohnzimmer, ging an der Küche vorbei, ging am Schlafzimmer vorbei und öffnete die Tür zum Bad. Er trat ein, entkleidete sich, stellte die Dusche an, stieg in die Wanne und zog den Duschvorhang zu.
Nach der Dusche schlüpfte er in seinen Seidenpyjama, putzte sich die Zähne und tapste auf nackten Füßen ins Schlafzimmer. Mit einem wohligen Seufzer kuschelte Burowski sich ins Bett und schloss die Augen.
Was für ein Tag. Vielleicht sollte ich ein Buch über mein aufregendes Leben schreiben. Oder erst mal Tagebuch führen, so quasi als Ideensammlung. Ja, ich sollte mir morgen eine Kladde kaufen und Tagebuch führen. Den ersten Eintrag für den heutigen Tag müsste ich noch nachtragen. Ein schöner Eintrag: "Heute hat jemand angerufen. Hatte sich verwählt. Es geht aufwärts."
Burowski grinste mit geschlossenen Augen, doch dann verkrampften sich seine Gesichtszüge, er schluckte und drehte sich auf die andere Seite.
 
Anmerkungen:
Der Anlass für diese Geschichte war die Themenausschreibung einer Literaturzeitschrift zum Thema "Warten". Der Tagebucheintrag ist mal einer meiner verdächtigen Texte mit dem Titel "Auf dem Weg nach oben" gewesen.
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