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Van-Gogh-Taxi
Sie öffnen die Tür des Taxis, fragen "Sind Sie noch frei?", der Fahrer nickt, Sie steigen ein, der Fahrer wendet sich Ihnen zu und fragt "Wohin?" – und Ihr erster Gedanke ist: "van Gogh".
Tatsächlich, der Fahrer sieht aus wie Vincent van Gogh gerade von der Leinwand gestiegen und ins Taxi gesetzt: der rote Vollbart, die kräftige Nase, die grünen Augen unter buschigen Brauen, die hohe Stirn betont durch das strähnig zurückgekämmte rotblonde Haar.
Frage: Wieso wollen Sie eigentlich mit dem Taxi fahren?
Ganz klar, Sie brauchen eine Identität, eine Vorgeschichte.
Vorschlag: Sie arbeiten für ein amerikanisches Unternehmen, das Multimedia-Workstations herstellt. Genauer gesagt, Sie verkaufen die Dinger. Nennen wir Sie "Sales Manager Germany", denn Vertreter heißt heute keiner mehr.
Der Markt in Deutschland ist nicht leicht. Es gibt zu wenig Produktionsfirmen, die auf amerikanischem Niveau arbeiten. Dann noch die Rezession; es läuft nicht toll.
In dieser Situation kommt der Vorstandsvorsitzende über den großen Teich, um die Verkaufsmannschaft für Deutschland anzufeuern. Zusammen mit etwa dreißig Sales Managern sind Sie zu einer "Marketing Conference" in ein Hotel im Essener Süden eingeladen worden. Sie haben den Zug genommen, um sich noch etwas vorzubereiten, denn ein Einzelgespräch mit dem großen Boss ist mit Sicherheit zu erwarten.
Nun sitzen Sie also im Taxi, nennen Ihr Ziel und es geht los. Vielleicht nehmen Sie die Sache erst mal mit Humor und sagen mit einem trockenen Lachen hinterher: "Sie sind van Gogh, stimmt's?"
"Steht da", sagt der Fahrer und deutet mit dem Kopf auf eine gelbe Plakette, die am Rückspiegel baumelt: "Ihr Fahrer: Vincent van Gogh".
"Wie der Maler", sagen Sie. "Sie kennen meine Bilder?", fragt van Gogh erstaunt.
"Natürlich, wer kennt die nicht?"
Dazu sagt er nichts, doch es ist ein irritiertes Schweigen. Und Ihnen wird bewusst, was Sie gesagt haben.
"Ich meine natürlich die Bilder von dem alten van Gogh, die Sonnenblumen zum Beispiel. Die kennen Sie ja auch", versuchen Sie richtig zu stellen.
Sie ernten einen zweifelnden Seitenblick.
"Sonnenblumen? Hab ich auch gemalt. Aber ein alter van Gogh? Davon hat mein Bruder nie was gesagt, und der ist im Kunsthandel."
"Ja, Theo", rutscht Ihnen heraus. Van Gogh bremst abrupt.
"Woher kennen Sie Theo?"
Ja, woher kennen Sie Theo? Sie müssten ein wenig die Lebensgeschichte Vincent van Goghs kennen, um auf Theo zu kommen. Jeder hat von der Sache mit dem abgeschnittenen Ohr gehört, nur dass Vincent van Gogh von seinem Bruder Theo über Wasser gehalten wurde, weil sich seine Bilder nicht verkauften, das ist sicher nicht allgemein bekannt. Nun stehen Sie vor einem Problem: Neben Ihnen sitzt ein Vincent van Gogh, gleichfalls Maler, auch mit Bruder Theo, aber den historischen Vincent van Gogh kennt er nicht. Wie passt das zusammen?
Das Taxi steht mitten auf der Straße, hinter Ihnen hupt ein Auto. Wie soll man da nachdenken?
"Fahren Sie doch bitte weiter, dann versuche ich das zu erklären", sagen Sie.
"Was gibt es da zu erklären? Woher kennen Sie uns?"
Van Gogh ist etwas laut geworden, hinter Ihnen nun Dauergehupe.
"Können wir nicht weiter fahren?", bitten Sie. "Bei diesem Lärm kann man nicht reden. Vielleicht verwechsele ich Sie. Ich will versuchen das zu klären, aber bitte lassen Sie uns weiter fahren."
Van Gogh fährt an. Sie sind ein guter Psychologe, Sie sollten über eine Karriere im Workstation-Verkauf nachdenken. Doch jetzt gilt es sich zu sammeln. Wie kann ein Maler van Gogh nicht kennen?
"Lassen Sie mich so anfangen: Sie haben doch bestimmt Kunst studiert. Dabei muss Ihnen doch der Name van Gogh untergekommen sein."
Van Gogh schüttelt den Kopf.
"Nein, ich hab die Kunstakademie abgebrochen. Dort gab’s nur Vorschriften und kein Leben in den Bildern."
"Aber van Gogh. Das ist doch Allgemeinbildung."
"Ich kenne keinen Maler mit diesem Namen", sagt er nachdrücklich.
Plötzlich funkt es bei Ihnen.
"Kommen wir an einer Galerie oder Buchhandlung vorbei?"
"Die Galeristen hier sind Idioten, aber Baedeker hat in Rüttenscheid ein Geschäft. Wir müssten ein Stück zurück. Wollen Sie das?"
"Ja, fahren Sie zurück, dann klärt sich alles auf."
Van Gogh nickt, scheint jedoch nicht überzeugt.
Das Taxi hält vor der Buchhandlung, Sie steigen aus, schauen bei den Kunstbüchern: kein van Gogh. Sie fragen die Buchhändlerin, die fragt ihren Computer: kein van Gogh. Und die Buchhändlerin selbst? Kunst sei nicht ihr Fachgebiet, leider. Sie verlassen die Buchhandlung und steigen wieder ins Taxi.
"Nein, dort kennt man keinen van Gogh", sagen Sie, in einer dicken Gedankenbrühe versunken. "Aber ..."
Sie müssen mir nicht erzählen, dass es einen van Gogh gab. Sie wissen das, ich weiß das, nur in dieser Buchhandlung gibt es kein Buch über ihn, kein Wissen, kein gar nichts. Was nun?
"Selbst wenn Sie sich mit den Galeristen hier nicht verstehen, ich will es zumindest einmal versuchen. Sie müssen ja nicht mit hineingehen."
Tapfer von Ihnen. Van Gogh zuckt mit den Schultern.
"Gut, Sie zahlen, ich fahre. Aber eins ist sicher, die wollen mich nicht kennen, und einen alten van Gogh kennen die erst recht nicht."
Van Gogh dreht und fährt wieder Richtung Süden. Er ist also sicher, und Sie?
Das Taxi hält vor einer Galerie. Sie steigen aus, reden mit dem Galeristen und steigen wieder ein. Kein van Gogh: weder alt noch neu.
Van Gogh nimmt nickend zur Kenntnis, dass er recht hatte.
"Und nun zum Hotel?", fragt er.
Sie atmen einmal kräftig durch und kapitulieren: "Ja, fahren Sie mich bitte zum Hotel."
Sie sind nun sehr schweigsam. Das kann ich Ihnen nicht verdenken. Vielleicht haben Sie sich nie viel Gedanken über van Gogh gemacht, doch jetzt, wo es anscheinend nie einen gegeben hat, fehlt er Ihnen sehr. Nein, ich muss es genauer sagen: Es geht nicht nur um van Gogh. Etwas ist nicht mehr da, von dem Sie immer wussten, dass es da war. Was ist Ihr Wissen jetzt noch wert?
Doch vergrübeln Sie sich nicht. Immerhin sitzt ein Vincent van Gogh neben Ihnen. Wär’s nicht interessant zu erfahren, was er so treibt? Wenn der Fahrer jedoch nur ein bisschen von den Eigenheiten des historischen van Gogh hat, sollten Sie auf Ihre psychologischen Qualitäten zurückgreifen, sonst kriegen Sie aus ihm nur Einsilber heraus.
"Sie wundern sich bestimmt über mein Verhalten", sagen Sie. "Ich war der festen Überzeugung, dass es schon mal einen Maler namens van Gogh gegeben hat, dessen Bruder ebenfalls Theo hieß. So viel Zufall erscheint mir jetzt auch unmöglich. Entschuldigen Sie bitte meine Starrköpfigkeit."
Mann! Sie lügen das Blaue vom Himmel herunter. Ich nehme Ihnen nicht ab, dass Sie glauben, was Sie sagen, doch Sie machen das sehr geschickt. Ob er anbeißt?
Van Gogh nickt mal wieder.
"Ja, man verrennt sich in Dinge, die einfach nicht wahr sind. Ist mir auch schon passiert. Zum Glück hab ich meinen Bruder und die Malerei."
Er lächelt. Van Gogh lächelt! Jetzt aber ran.
"Und was malen Sie?"
"Alles, was bereit ist, mir Modell zu stehen: Menschen, Straßen, Landschaften, am liebsten draußen."
"Wäre da nicht eine andere Umgebung besser geeignet, etwas ländlicher vielleicht?"
"Oh, nein, Essen ist wunderbar. Der Süden hat die Landschaft, der Norden die Menschen. Diese Vielfalt, da brauch ich 100 Jahre, um alles zu malen. Allein an der Ruhr entlang finde ich immer wieder Landschaften. Und die Stadtteile, so unterschiedlich. Die Margaretenhöhe mit ihren Efeuhäuschen, die Zechensiedlungen im Norden. Und dann die Menschen. Am liebsten sind mir die Alten, vor allem die alten Türken mit ihren Charakterköpfen, von der Geschichte des Ruhrgebiets gezeichnet. Nein, woanders will ich gar nicht hin."
"Sie malen also nur gegenständlich?"
"Ja, immer nach der Natur, nach Modell. Aus dem Kopf, das ist mir nicht gegeben. Doch ich male nicht realistisch, wenn Sie das meinen. Die Landschaften, die Menschen, die Dinge, die ich male, ich gebe ihnen ihr eigenes Bild. Ich lüge, um die Wahrheit zu sagen, wenn man so will."
"Haben Sie Vorbilder für Ihre Art der Malerei?"
"Als Sie sagten, ein Maler des 19. Jahrhunderts mit meinem Namen, das hätte mich schon interessiert, obwohl es nicht sein konnte. Was sich in der französischen Kunst Ende des 19. Jahrhunderts getan hat, da ist viel Gutes für mich drin, aber ich versuche mich durch beharrliche Arbeit weiterzuentwickeln. Ich will auf eigenen Füßen stehen."
Schlechte Nachrichten: Sie sind da. Van Gogh schaut auf den Zähler, dann schaut er Sie an. Ich glaube, es ist ihm etwas peinlich, Ihnen 19 Euro 20 für diese Fahrt abzunehmen.
Sie geben ihm 30 Euro und sagen: "Der Rest ist für Farben".
"Ja, danke, gute Farbe ist nicht billig", sagt van Gogh. Sie schauen sich an, als ob sie sich fragen, was für einer der Gegenüber eigentlich ist. Verständlich, nachdem was sie beide erlebt haben. Und wenn Sie mich fragen, dieser Typ passt haargenau auf den historischen van Gogh, aber verlangen Sie dafür keine Erklärung von mir.
Nun wird es Zeit, sich wieder auf die Rolle des Sales Managers für Multimedia-Workstations zu konzentrieren. Klar verstehe ich, dass Sie nicht ganz bei der Sache sind. Im Vertrauen gesagt, diese ganze Veranstaltung ist eh nur Bluff. Der große Boss wollte nur noch mal auf Firmenkosten nach Europa reisen. Das Unternehmen liegt schon ziemlich flach, und in spätestens sechs Monaten ist es ganz platt. Von daher ist es egal, dass Sie der Veranstaltung nur sehr unkonzentriert folgen und im anschließenden persönlichen Gespräch mit dem Chef keine gute Figur machen.
Sie verabschieden sich bald von der geselligen Runde nach der "Conference" und gehen auf Ihr Hotelzimmer. Sie sitzen auf dem Bett. Denken nach. Grübeln ... Vielleicht kann ich Ihnen helfen: War nicht im Foyer ein Internet-Terminal? Kommt Ihnen da nicht eine Idee? Genau!
Sie gehen hinunter, geben van Gogh ins Suchfeld ein: 390.000 Treffer, an der Spitze das Van-Gogh-Museum in Amsterdam. Sind Sie nun erleichtert? Ihr Wissen stimmt wieder mit der Welt überein. Trotzdem bleibt die Frage, was ist heute ... Was machen Sie jetzt? Sie lassen sich an der Rezeption die Gelben Seiten geben? Ach, ich kann’s mir denken. Machen Sie mal.
Na, fertig? Und? Ja, das habe ich mir gedacht: In keinem Essener Taxiunternehmen gibt es einen Fahrer namens van Gogh. Ich gebe zu, das ist alles sehr verwirrend, deshalb mein Vorschlag: Schlafen Sie eine Nacht drüber. Morgen wird Ihnen dies wie eine Geschichte vorkommen, die nie passiert ist und nie passieren wird. Nur wenn Sie in einem Essener Hotel aufwachen sollten, dann haben Sie wirklich ein Problem.
 
Anmerkungen:
Van Gogh als Fahrer in ein Taxi zu setzen, diese Idee stammt aus einem E-Mail-Wechsel mit einem Amerikaner namens Rick McWade, der daraus ein Gedicht machte. Diese Version der Geschichte ist eine gekürzte Fassung, die ich für einen Literatur-Wettbewerb erstellt habe - wie immer erfolglos.
Die benutzte "Sie-Perspektive" ist sicher noch verbesserungsfähig. Vielleicht fällt es Ihnen einfacher damit klar zu kommen, wenn Sie daran denken, dass genausowenig wie in der "Ich-Perspektive" "Ich" ich bin in der "Sie-Perspektive" "Sie" Sie sind.
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