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Zeitspiel
Eins steht fest: Ich habe heute morgen den Bus nicht verpasst. Es fing damit an, dass ich nur schwer aus dem Bett kam. Spätdienst. Es gab keinen Grund, das warme, wohlige Bett gegen kalten Alltag einzutauschen. Und doch schaltete ich das Radio ein. Fehler. Erst kam Musik, dann was über die neueste Landwirtschaftssauerei, wieder Musik, abgebrochen durch Werbung. Radio-Werbung. Steht nicht im Grundgesetz, dass die Würde des Menschen unantastbar ist? Warum gibt es dann Radio-Werbung? Weg mit der Decke, hochgehievt, Flucht ergriffen.
Aber es wurde nicht besser. Verdoppelung der Schwerkraft im Umfeld meiner Körpermasse und natürlich fiel die Schnitte mit dem Käse nach unten auf den Boden. Vielleicht lag es daran, dass ich mit Walter Spätdienst haben sollte. Spätdienst mit Walter heißt, Monologe zur Lage der Bundesliga, zusammengeschnitten aus den abgestandenen Redewendungen von Fernsehkommentatoren und den Fußball-Neuigkeiten aus seiner billigen Zeitung.
Lider auf Halbmast verließ ich die Wohnung. Als ich in die Straße einbog, wo die Haltestelle war, stand der Bus schon da. Ich lief auf ihn zu und er fuhr natürlich nicht weg. So etwas machen Busfahrer nicht. Genausowenig wie Straßenbahnfahrer einfach abschieben, wenn da noch jemand am Fahrkartenautomaten herumfummelt, weil es in der Straßenbahn keine Fahrkarten mehr gibt. Würden die nie tun. Nie.
Also musste ich nicht 20 Minuten an der Haltestelle warten und meine Wut auf kleiner Flamme köcheln lassen. Ich saß im Bus, den ich nicht verpasst hatte und sah nicht den Kartoffelmann mit dem Pferdewagen, der auf Höhe der Haltestelle auf die Straße spuckte. Da nie gesehen, vergaß ich nicht gleich wieder die eine Million Autos, die an mir vorbeifuhren bis auf den weißen Mercedes mit den Nonnen drin. Und ganz klar, ich werde niemals wissen, dass der Busfahrer im nächsten Bus aussah wie der junge Leonard Bernstein mit Brille, kaugummikauend.
Gut. Hier ist der Haken: Ich kann mich nicht erinnern, was ich sah, als ich mit dem Bus fuhr, den ich nicht verpasst habe. Auch von den Mitfahrern ist mir keiner im Gedächtnis geblieben. Aber das ist schließlich normal, wenn man jeden Tag die gleiche Tour fährt, und überhaupt – ich war immer noch im Tran.
Härter ist, dass ich diese Geschichte nicht schreibe, weil es dafür keinen Anlass gibt. Der Busfahrer hat ja gewartet und ich hab den Bus nicht verpasst. Nur was mache ich stattdessen? Und welche Auswirkungen hat das, was ich gerade tue, auf mein Leben?
Noch härter ist, dass Sie diese Geschichte nicht lesen können, aber was tun Sie stattdessen? Und welche Auswirkungen hat das, was Sie gerade tun, auf Ihr Leben? Und welche Auswirkungen hat das, was Sie tun, während Sie diese ungeschriebene Geschichte nicht lesen, auf das Leben anderer?
Vielleicht rufen Sie, statt zu lesen, einen Freund an. Passt gerade nicht, der Freund kriegt was in den falschen Hals, Freundschaft auf der Kippe, Freund schlecht gelaunt, schnauzt seine Lebensgefährtin an, die am nächsten Tag sein Konto räumt und in Urlaub fährt.
Oder: Statt zu lesen, fahren Sie in die Stadt, nehmen unbeabsichtigt jemandem die Vorfahrt. Typ ärgert sich, prügelt wegen nichtigem Anlass seine Kinder, die dafür seinen Lieblingskanarienvogel in der Mikrowelle einsperren und das Gerät anstellen.
Übertrieben? Möglich. Nur was macht Sie so sicher, dass keine Katastrophen passieren, wenn Hunderte oder Tausende Menschen, die eigentlich eine Geschichte lesen wollten, plötzlich orientierungslos vor einer ungewissen Zukunft stehen, weil es keine Geschichte gibt? Sind da nicht Kurzschlusshandlungen vorprogrammiert?
Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte heute morgen den Bus verpasst. Dann hätte ich diese Geschichte schreiben können und wir wären alle fein raus.
 
Anmerkungen:
"Zeitspiel" ist gewissermaßen ein historisches Ereignis, denn dies war die erste Geschichte von mir, die in einem Literaturmagazin erschien: im November 2002. Und wie das so ist mit einem historischen Ereignis, als Beteiligter merkt man's gar nicht. Ich hab's zumindest nur durch Zufall erfahren, bin weder benachrichtigt worden, noch hab ich je ein Belegexemplar gesehen. Vielleicht hat da jemand den Schluss der Story missverstanden.
Zeitspiele werden hier übrigens noch in einigen Geschichten auftauchen, weil das Thema mich doch sehr fasziniert.
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