0. Vorpalaver
Scheiße. Sieht ganz so aus, als ob man alles selber machen muss, oder wann haben Sie das letzte Mal ein Schachbuch in der Hand gehabt, das Ihnen neue Erkenntnisse fürs praktische Spiel brachte und nebenbei einigermaßen erfrischend geschrieben, vielleicht sogar komisch war? Solche Bücher sind rar, denn es gibt zwar eine Menge guter Schachspieler, nur haben die keine Ahnung vom Schreiben; andrerseits gibt es einige Leute, die schreiben klasse Bücher, können aber nicht besonders gut schachspielen. Da bleib ich nur selbst als letzte Rettung über: Ich kann weder das eine noch das andere.
Ganz klar, diese wunderbare Lösung führt zu Schuhproblemen. Wenn man nicht zu den oberen Zehntausend der Schachszene gehört, aber trotzdem etwas liefern will, das einen schachlichen Nährwert hat, dann muss man bei der Wahl des Themas gut aufpassen: Läuft man in zu großen Schuhen herum, führt das zu einem äußerst schleppenden Gang und spätestens beim ersten größeren Hindernis fällt man auf die Nase.
Bei der Bewältigung meiner Schuhprobleme hab ich jedoch Glück gehabt. Das Schicksal winkte mir mit dem berühmten Zaunpfahl, und wahrlich, war es nicht Brian, der in seiner legendären Rübennasenpredigt sagte:
Selig sind,
denen mit dem Zaunpfahl gewunken wird,
denn ihrer ist die Kopfverletzung
Dia 1:
Weiß ist dran
in jeder Beziehung
dia1
In dieser Stellung entwickelte ich einen langfristigen, zweizügigen Plan, der vorsah, den Sf3 nach c4 zu überführen, also 1.Sf3-e5. Der Plan meines Gegners war dagegen eher kurzfristiger Natur. Er schlug mir ganz einfach mit dem Zaunpfahl den Schädel ein: 1. ... Td8xd4+. Nach einer kurzen Sendepause teilte mir mein Gehirn mit, dass der Bc3 gefesselt und gegen 2. ... Td4xd2+ 3. Kegalwoherxd2 Ta3-a2+ zuzüglich Ta2xg2 kein Kraus gewachsen ist. Ende der Durchsage.
Zugegeben, das war ein harter Schlag, doch eigentlich gab es keinen Grund zum Jammern. Ich wusste schon länger, dass die rechtzeitige Entdeckung von Fesselungsmotiven nicht gerade zu meinen Stärken gehörte. Mit Fesselungen ging es mir wie mit Mücken. Ich sah sie immer erst, wenn sie schon zugestochen hatten. Außerdem befand ich mich in namhafter Gesellschaft, denn auf eine Fesselung ist schon so ziemlich jeder reingefallen. Das fängt an bei A wie alle und geht bis Z wie zu viele. Trotzdemtrotzdemtrotzdem, es musste etwas passieren.
Prinzipiell stehen zwei Wege zur Verfügung, um mit einer schachlichen Schwäche fertig zu werden:
1. Vermeiden
2. Malochen
Weg Nr. 1 ist in diesem Fall weder eine Einbahnstraße noch eine Sackgasse, aber das Bild einer unbeleuchteten Straße bei stockfinsterer Nacht, die zu einer nicht abgesperrten Baustelle mit einer tiefen, tiefen Grube führt, trifft die Sachlage zweifellos sehr genau. Selbst wenn der Gegner zur aussterbenden Spezies des gemütlichen, älteren Herrn gehört („Ist doch nur ein Spiel!“), wird es kaum etwas nützen, ihm vor der Partie mitzuteilen, dass man Fesselungen nicht abkann und deshalb freundlichst darum bittet, auf solche Kinkerlitzchen zu verzichten. Spätestens nach zwei Stunden Spielzeit ist man mit den Händen an den Stuhlbeinen gefesselt, und der gemütliche, ältere Herr wartet freundlich lächelnd auf die Zeitüberschreitung.
Der Versuch, Stellungen zu vermeiden, in denen es zu Fesselungen kommen kann, ist offensichtlich sinnlos.
Blieb also nur Weg Nr. 2. Dessen Endergebnis bewegt gerade ihre Pupillen von links nach rechts: Ein Lehrbuch zum Thema Fesselung.
Musste das sein?
Natürlich nicht. Es fing eigentlich ganz harmlos an. Nach dem großen Zaunpfahlwinkewinkedesaster begann ich eine Fesselungssammlung auf die Beine zu stellen. Weil die Spendierfreude von Fesselungsopfern unübertroffen ist, machte die Kollekte schnell große Fortschritte. Von Zeit zu Zeit ging ich die Sammlung durch, sortierte aus, ordnete gleich zu gleich und dabei stellte ich irgendwann fest, dass bei einigen Kombinationen etwas nicht stimmte. Sie waren taktisch korrekt, auch handelte es sich zweifelsfrei um Fesselungen, aber – und diese Abers werden Ihnen bald wie gute, alte Bekannte vorkommen – aber etwas stimmte nicht. Ich schaute in die Lehrbücher, um zu sehen, was die Schriftgelehrten dazu sagten: Nichts.
Aus diesem Nichts entstand das 1. Kapitel, in dem Ihnen eine Erkenntnis für das praktische Spiel mitgegeben wird, die Ihnen vielleicht mal den entscheidenden Punkt auf dem Weg zur Weltmeisterschaft sichern könnte.
Zu hoch?
Dann eben zur Deutschen ...
Immer noch zu hoch?
Na gut, vielleicht erspart sie Ihnen bei der nächsten Vereinsmeisterschaft den letzten Platz.
Auch die weiteren Kapitel sind im Prinzip wie in einem Lehrbuch gestaltet. Systematisch wird alles gebracht, was man über Fesselungen wissen muss: Herstellung, Ausnutzung, die Mutation zur Kreuzfesselung, die Fesselung als Hilfsmittel zur Verwirklichung anderer Kombinationsmotive und schließlich die Entfesselung. Dabei tritt alles auf, was im Bereich Taktik Rang und Namen hat: Hinlenkung, Ablenkung, Gabeln, Mattmotive, Bauernumwandlung, sogar Patt und Zugzwang. Es kann also keine Rede davon sein, dass die Konzentration auf ein einziges Kombinationsmotiv eine zu dünne Basis für ein ganzes Lehrbuch ist, zumal, wie meine glorreichen Ausführungen zu Weg Nr. 1 gezeigt haben, die Fesselung in jeder Partie zuschnüren kann, d.h. die Anwendungshäufigkeit ist sehr groß, auf jeden Fall größer als bei all diesen Eröffnungsbüchern, die jeden Monat aus ihren Theorielöchern gekrochen kommen.
Obwohl ich alles getan habe, um ein richtiges Schachlehrbuch zu schreiben (das mir selbst übrigens sehr geholfen hat, denn ich fall nicht mehr auf jede Fesselung herein – nur noch auf jede zweite), würde ich trotzdem sagen: Vergessen Sie’s. Dies ist kein Lehrbuch, sondern der Versuch herauszufinden, was man aus einer Schachstellung, der daraus resultierenden Kombination, den beiden beteiligten Spielern sowie Ort und Zeit der Partie an Verrücktheiten herausholen kann, während man so tut, als ob man einzig und allein daran interessiert wäre, einem Leser alles über Fesselungen beizubringen.
Selbstverständlich sind alle Storys, die sich rund um die Kombinationen abspielen, frei erfunden und haben keinen realen Bezug zu den an der Partie beteiligten Spielern.
Eine Anmerkung zum Schluss: Nicht immer geht es in diesem Buch nett und höflich zu. Geschmacklose Ausrutscher oder makabere Momente sind durchaus drin. Doch wenn Sie sich in der Welt umschauen, dann werden Sie dem britischen Komiker Recht geben müssen, der einmal sagte: „Verglichen mit der Farbe der Realität ist Schwarzer Humor rosarot mit grünen Sternen.“
In diesem Sinne, lesen Sie ruhig weiter. Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten, sind alles nur zusammengesetzte Buchstaben.