1. Was ist eine Fesselung?
Eine Fesselung ist, wenn eine Figur eine gegnerische Figur angreift und dahinter steht noch eine wertvollere Figur, die angegriffen wäre, wenn die Figur, die eigentlich von der angreifenden Figur, das ist dann die fesselnde Figur, direkt angegriffen wird, also die gefesselte Figur, wegziehen würde und deshalb darf die gefesselte Figur nicht wegziehen, weil dann die fesselnde Figur die wertvollere Figur, die hinter der gefesselten Figur steht, schlagen würde, oder wenn das der König ist, der hinter der gefesselten Figur steht, dann ist das sowieso gegen die Regeln, wenn die gefesselte Figur die Bahn zwischen der fesselnden Figur und dem König frei macht, weil der König ja dann im Schach stünde.
Wenn auch selten so knapp, präzise und sprachlich elegant formuliert wie hier, so ist das doch in etwa die Definition einer Fesselung, die sich durch Generationen von Lehrbüchern behauptet hat, aber – und es war klar, dass an dieser Stelle ein großes, dickes ABER kommen musste – aber was ist eigentlich ein Elfmeter?
Ein Elfmeter ist ein Schuss aufs Tor aus elf Metern Entfernung.
Diese Definition eines Elfmeters ist sehr oberflächlich. Sie beschreibt, was ein Zuschauer sieht, geht jedoch am Kern der Sache vorbei, weil zu viele Details unterschlagen werden. Das wird spätestens dann deutlich, wenn man die umgekehrte Formulierung nimmt: Ein Schuss aufs Tor aus elf Metern Entfernung ist ein Elfmeter. Diese Definition würde jedem Kicker die Stollen aus den Tretern hauen.
Mit der Fesselungsdefinition da oben ist es genau umgekehrt und doch gleich. Dort werden viele Details genannt, die beschreiben, was man in den meisten Fällen sieht, wenn sich eine Fesselung auf dem Brett aalt, trotzdem wird der Kern der Sache nicht erfasst – behaupte ich.
Um nun zu zeigen, dass die traditionelle Fesselungsdefinition genauso schlapp ist wie meine Beschreibung eines Elfmeters, soll die Sache – mit der Fesselung, nicht mit dem Elfmeter – jetzt noch mal ganz systematisch angegangen werden.
Einen Satz Dias, bitte.
Dia 2 und Dia 3:
dia 2 und 3
Danke.
In Dia 2 greift der Turm den Läufer und indirekt auch die dahinter stehende Dame an. Der Turm ist also die fesselnde Figur, der Läufer, weil er nicht ziehen darf, die gefesselte Figur und die dahinter stehende Dame als wertvollere Figur der Grund für die Fesselung. Diese Formulierungen sind nicht nur furchtbar langweilig, sie können sogar zu einstürzenden Satzbauten führen. Es ist an der Zeit, etwas mehr Pep in die Sache zu bringen.
1. Nur Dame, Turm und Läufer haben die notwendigen weitgreifenden Qualitäten, um eine Fesselung aufs Brett zu zwirbeln. Es liegt daher nah, für den Begriff fesselnde Figur die unter Experten übliche Sammelbezeichnung Langfinger einzusetzen.
2. Gefesselt werden können sowohl Figuren als auch Bauern. Die neutrale Bezeichnung Fesselungsobjekt oder kurz Fob dürfte also akzeptabel sein.
3. Zum Schluss bleibt noch das hinter dem Fob liegende eigentliche Ziel des Langfingerangriffs, deshalb sollte es auch so heißen: Ziel.
Jetzt klingt Dia 2 schon interessanter: Der Läufer ist ein Fesselungsobjekt, weil er die Angriffslinie zwischen dem Langfinger und der als Ziel fungierenden Dame nicht freilegen darf, denn der Verlust der Dame wiegt schwerer als der mögliche Verlust des Läufers, falls dieser z.B. von einem Bauern angegriffen würde. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass der Fesselungsbegriff nur die Einschränkung der Bewegungsfreiheit aus der Angriffslinie des Langfingers heraus meint, wie in Dia 3 zu sehen ist.
Die schwarze Dame wird durch den Turm gefesselt. Hier muss man die negative Konsequenzen des Wegzugs aus der Angriffslinie mit „Regelverstoß“ übersetzen. Davon unberührt behält die Dame entlang der Angriffsbahn die volle Turnfreiheit und damit die Chance, die Fesselung durch Schlagen des Langfingers höchstselbst aufzulösen.
Sind Sie bereit für Dia 4?
Dia 4:
O.K., tief durchatmen und ab: In Dia 4 sieht man etwas völlig Alltägliches. Schwarz hat brav seine Türme verdoppelt und fühlt sich in Stimmung, dem weißen Turm eins auf die Mütze zu geben. Trotzdem ist der Turm auf der 7. Reihe ein Fesselungsobjekt. Wie Dia 3 gezeigt hat, spielt die Bewegungsfreiheit auf der Angriffslinie für die Frage, ob eine Fesselung vorliegt, keine Rolle, wichtig ist nur die Beurteilung der Zugmöglichkeiten aus der Angriffsbahn heraus. Ganz eindeutig läuft für den vorderen schwarzen Turm auf der 7. Reihe nichts. Der Turm ist gefesselt!
So weit, so weit. Selbst wenn man bereit ist, diese spitzfindige Logik nachzuvollziehen, bleibt eine Frage offen: Hat das irgendeine praktische Bedeutung?
Es hat.
Dia 5:
Schüssler - Rantanen
Stockholm 1977/78
dia 5
So ein Zug wie 1.Td1-d7 kann einem schon den Glauben an das Gute in der Turmverdoppelung vermiesen. Der Te7 verfügt zwar weiterhin über die volle Bewegungsfreiheit auf der e-Linie, doch ein Kick nach d7 ist nicht drin. Er ist also gefesselt. Daran könnte auch 1. ... Sf7-e5 nichts ändern, weil es einfach 2.Te1xe5 regnen würde. Schwarz versuchte sich deshalb mit 1. ... Sf7-h6 rauszureden, aber 2.Dg4xg7+ Kh8xg7 3.Td7xb7 Te7xb7 4.Te1xe8 brachte ihn drei Züge später zum Schweigen.
Ich geb zu, das war ein bisschen unfair. Schließlich war nicht der Te8 das eigentliche Ziel der Fesselung, sondern die mit seinem Schlagen verbundene Grundreihenmattdrohung. Trotzdem kommen wir damit dem bisher vernachlässigten Kern der Fesselung ein Stück näher.
 
Dia 6:
Reshewsky - Euwe
New York 1951
dia 6
 
Reshewsky zog 1.Dd2-d7, um sich auf der 7. Reihe breitzumachen, doch das einzige, das breit ging, war seine Dame 1. ... Tf8-d8. Ein Ausweichen aus der d-Linie ist nicht drin, weil selbst die Demolierung der schwarzen Tante keine ausreichende Kompensation für den Td1 darstellt, der mit Mattgebot geschlagen würde.
Entgegen der üblichen Fesselungsbeschreibung ist die Zielfigur vom reinen Figurenwert wieder nicht wertvoller als das Fesselungsobjekt. Bewiesen wird damit jedoch gar nichts, denn in beiden Fällen mussten die mit der Eroberung des Turms verbundenen Konsequenzen dazugerechnet werden. Stimmt die traditionelle Fesselungsdefinition also doch?
Nö.
 
Dia 7:
McCambridge - Alexander
Pasadena 1983
dia 7
 
Nachdem Weiß einen Läufer geopfert 1.Ld3xh7+ Kg8xh7, ein Schach gegeben 2.De2-h5+ Kh7-g8 und die schwarze Dame angegriffen hatte 3.Tc1-d1, begann Schwarz sich mit dem Gedanken zu befassen, seine Dame aus der d-Linie wegzuziehen. Im Prinzip keine schlechte Idee, die Sache hatte nur einen jämmerlichen Haken: Die Dame konnte nicht mehr von der d-Linie weg, da der Schutz des Feldes d8 Vorrang hatte. Die Dame war vor dem Feld d8 gefesselt.
Vor dem Feld!
Die alte Gleichung, eine Fesselung besteht aus drei Figuren, der fesselnden, der gefesselten und der wertvolleren, die dahinter steht, stimmt also nicht. Es muss überhaupt keine Figur hinter dem Fob stehen, und wenn dort eine steht, kann ihr Wert nebensächlich sein. Bei der Begründung einer Fesselung ist das Einsacken einer wertvollen Figur nur eine von mehreren möglichen Konsequenzen, die sich aus der gedachten Eroberung des Zielfeldes ergeben, genauso gut können die Folgen in einem Matt oder einer anderen forcierten Operation bestehen.
Bevor dieser Gedankengang mit dem nächsten Dia weiter beleuchtet wird, will ich noch schnell einschieben, dass Schwarz mit der Aufhebung der Fesselung durch 3. ... g7-g6 nicht mehr als den Nullpunkt erreichte: 4.Td1xd5 g6xh5 5.Td5-d8+ und 6.Td8xa8.
Dia 8:
Müller - Waschke
Prillwitz 1985
dia 8
Aus der Sicht des Schwarzen stellt sich die Situation auf dem Brett wie ein kleiner Gartenteich dar. Er hat alles unter Kontrolle, das Wasser ist ruhig, unter der Oberfläche huschen ein paar Fische umher wie die flüchtigen Gedanken, die sich Schwarz über den künftigen Verlauf der Partie macht, und seine Hoffnung auf einen ganzen Punkt schlummert in Form einer Seerose mitten auf dem Teich.
PLATSCH! 1.Tg3-c3 Herr Müller wirft einen großen Stein genau dort in den Teich, wo gerade noch die Seerose in aller Ruhe vor sich hin döste.
Schwarz kann keinen klaren Gedanken fassen, das Wasser schwappt wild an die Ufer, panikartig machen sich die Fische davon. Erst nach und nach beruhigt sich der Teich wieder, und ein paar letzte Wasserringe dehnen sich langsam bis ans Ufer aus, wie auch die Gedanken von Schwarz allmählich zu Ergebnissen führen.
Der schwarze Bauer auf d4 ist vor dem Feld d8 gefesselt, weil 1. ... d4xc3 2.Db6xc6 die Dame kosten oder nach 2. ... Tc8xc6 3.Td1-d8+ sogar mattgehen würde. Die Lady in black kann den Turm ebenfalls nicht schlagen, weil sie durch die weiße Dame entlang der 6.Reihe vor dem Feld f6 gefesselt wird. Der Bf6 ist dabei unwichtig, nur die Eroberung des Feldes mit anschließendem Matt auf g7 zählt. Schließlich hindert die Fesselung vor dem Feld c8 - der Turm ist nur eine Mattbeilage - die Black Lady daran, ihrer Nachbarin eine zu verputzen.
Die schwarze Dame ist in einem Netz von drei wilden Fesselungen gefangen. Bei keiner einzigen spielt der Figurenwert auf dem Zielfeld eine Rolle.
 
Was war in diesem Kapitel schachlich gesehen erinnerungswert? Aus meiner Sicht natürlich alles, doch ich bin bereit, mich auf zwei Dinge runterhandeln zu lassen:
1. Eine Fesselung beinhaltet nur die fehlende Bewegungsfreiheit des Fobs aus der Angriffslinie heraus. Die Zugmöglichkeiten entlang der Linie sind nicht tangiert.
2. Die Beschränkung des Fesselungsbegriffs auf den höheren Wert der Zielfigur gegenüber dem des Fesselungsobjekts ist irreführend, weil der offizielle Wert der Zielfigur nebensächlich sein kann bzw. überhaupt keine Figur hinter dem Fob stehen muss, denn die Bedeutung des Zielfeldes allein kann schon eine Fesselung begründen.
Ausgerüstet mit diesen Erinnerungswerten ergibt sich folgende Fesselungsdefinition:
Eine Fesselung ist die Einschränkung der Bewegungsfreiheit eines von einem Langfinger angegriffenen Fesselungsobjekts aus der Angriffslinie heraus aufgrund der Tatsache, dass die negativen Konsequenzen der Eroberung des in der Angriffslinie hinter dem Fob liegenden Zielfeldes schwerer wiegen als die beim Verbleib des Fobs auf der selben.
Dieser Wortschwall, auch Definition genannt, mag ganz hübsch sein, aber -– und es wurde mal wieder Zeit für ein großes Dickes – aber welchen praktischen Nutzen hat es, wenn man jetzt ganz genau weiß, was eine Fesselung ist?
Ich seh das so: Zum einen hilft es, weil damit gezeigt wurde, dass man Lehrbuchweisheiten nicht ohne eigenes Nachdenken akzeptieren darf. Zum anderen erhöht es die Chancen, Fesselungen zu entdecken, denn es hat sich herausgestellt, dass mehr fesselungsanfällige Figurenkonstellationen frei herumlaufen, als die traditionelle Definition zugeben will. Man könnte sogar sagen: Die Fesselung ist immer und überall, und wer das nicht glaubt, der kann ja mal Karpow fragen.
Dia 9:
Short - Karpow
WM-Halbfinale Lineares 1992
dia 9
1. ... Dd6xd3 ist nicht nur ein Zug, sondern sieht auch so aus wie einer: Wie ein WM-Zug, der gleich abfährt. Schon gibt der Schaffner das Signal 2.Tc2-d2 an den Lokführer. Karpow hört das gar nicht gerne, doch er muss sich unbedingt noch von seiner Dame verabschieden, die wegen des Balgs auf d8 nicht aus der d-Linie raus darf: 2. ... Dd3xd2 3.Lb4xd2 Sf6xe4. Das Lied von der guten, alten Fesselung hätte er ihr allerdings nicht mehr vorsingen müssen. Es ist sowieso alles zu spät, der WM-Zug 4.Tc1-c2 fährt ab und es sitzt kein Karpow drin.
Wie wir inzwischen wissen, erwischte Karpow den WM-Zug doch noch. Vielleicht hätte irgendwer den Herren Kasparow und Short erklären sollen, dass man seine Geldsäcke nicht an der Notbremse aufhängt.