|
Katz, Maus, Zeitung
Es ist Samstagmorgen. Eine Frau sitzt mit der Zeitung
am Küchentisch. Sie starrt die erste Seite an; ihre Hände zittern;
sie hat Tränen in den Augen. Nennen wir sie Gisela. Sie sind doch
damit einverstanden, dass wir Sie einfach Gisela nennen, oder?
"Was?"
Ich meine, es ist besser, wenn die Leser nicht Ihren ganzen Namen erfahren.
"Bitte? Wer spricht denn da? Das gibt’s doch gar ..."
Wie wir sehen, bricht Gisela gerade zusammen. Wir sollten sie jetzt eine
Weile allein lassen und auf Dienstagabend zurückblicken:
Gisela sitzt in der Straßenbahn. Sie ist nach der Arbeit noch in
der Stadt gewesen, hat sich endlich dieses sündhaft teure Shirt gekauft,
denn dieser Tag war einfach furchtbar.
Ich sollte noch sagen, dass Gisela Anfang 30 ist; gutaussehend, langes
schwarzes Haar, Sekretärin bei einem großen deutschen Energiekonzern,
genauer gesagt die Sekretärin des Key Account Managers Ostdeutschland,
der an diesem Tag seinen Flug verpasst hat und die Angelegenheit so hinstellte,
als ob Gisela die Sache verbockt hätte. Sie kennen das.
Es sind nur wenige Menschen in der Straßenbahn. Drei Reihen vor
Gisela auf der anderen Seite des Ganges sitzt ein Mann auf einem Einzelplatz,
liest Zeitung. Die Innenteile der Zeitung liegen etwas unordentlich auf
dem Platz gegenüber. Der Mann ist immer noch bei der Titelseite.
"Hören Sie auf!"
Bitte, Gisela?
"Hören Sie auf damit!"
Nun, Gisela, ich hatte den Eindruck, dass Sie zunächst ein wenig
allein sein wollten. Aber wenn Sie meinen. Möchten Sie die Geschichte
jetzt selbst erzählen?
"Ich versteh das nicht. Wer sind Sie? Wo sind Sie? Ich höre
nur eine Stimme, das kann doch alles nicht wahr sein."
Ich schlage vor, Sie machen sich erst einmal ein bisschen frisch und erzählen
dann, was Dienstagabend passiert ist.
"Was soll das? Was wissen Sie von Dienstagabend? Oh, Gott. Oh, Gott!"
Ja, da ist es wieder passiert, aber wir verstehen das sicher alle. Gisela
befindet sich in einer existenziellen Krise, es hilft ihr bestimmt, wenn
sie ihren Tränen freien Lauf lässt.
Sollen wir nun auf sie warten oder soll ich weiter erzählen? Tja,
was machen wir? Ich könnte den zeitungslesenden Mann ...
"Schluss damit. Was ... was wollen Sie?"
Mein Vorschlag wäre, dass Sie selbst erzählen, was Dienstagabend
passiert ist. Aber Sie können das natürlich nicht hier allein
sitzend in der Küche tun. Dann hielte man Sie ja für verrückt.
Rufen Sie jemanden an, aber bitte trocknen sie erst Ihre Tränen und
schneuzen mal durch.
"Gut, ich werd alles tun, was Sie sagen, aber dann ... Oh, Gott!"
Dritter Anfall, da werd ich wohl doch selbst ...
"NEIN!"
Tapfer, unsere Gisela, geht ins Bad – wollen wir ihre Intimsphäre
wahren. Ich bin gespannt, wen sie anruft. Mein Tipp lautet Christine.
Da ist sie ja wieder.
Also, Gisela, wen werden Sie anrufen? Sie sollten sich das gut überlegen,
denn diese Geschichte ist wirklich sehr ungewöhnlich. Wem können
Sie vertrauen?
"Ich ... Haben Sie einen Vorschlag?"
Nein, Gisela, so geht das nicht. Sie müssen schon selbst wissen,
wen Sie anrufen können. Ich bin nicht allwissend.
"Dann .. ruf ich Astrid ..."
Astrid? Wollte Astrid nicht übers Wochenende wegfahren?
"Woher ... oh, verdammt, ich ruf ... Christine an."
Ja.
Ja, ich glaube, wir sind alle der Meinung, dies ist eine gute Wahl. Bitte,
dann rufen Sie Christine an.
Ich werfe noch kurz dazwischen, dass Christine ehemals die beste Freundin
von Gisela war. Ihre Wege haben sich ein wenig getrennt, weil Christines
Mann ... nein, da geht's schon los:
"Christine, ich bin’s, Gisela."
"Ja, ich weiß, es ist früh, aber ich muss dir unbedingt
was erzählen. Mir ist da etwas Furchtbares passiert, ich muss mit
jemandem reden."
"Nein, nein, nein, das nicht, es ist die Zeitung und ... warte, ich
muss einmal durchatmen. Also Dienstag ..."
"Nein, ich weiß es doch erst seit heute. Lass es mich der Reihe
nach ... bitte."
"Gut, also am Dienstag war ich noch in der Stadt. Ich musste was
kaufen. Frustkauf, du weißt schon. Mein Chef ..."
"Ja, immer noch derselbe und immer noch ein Arsch. Er sollte Dienstagmittag
nach Berlin fliegen, hat vorher eine Besprechung angesetzt und ist wieder
nicht zum Ende gekommen. Ich hatte alles Mögliche um die Ohren, bis
ich auf die Uhr geguckt habe, war’s schon fast zu spät. Er hat das
diesmal so gedreht, dass ich die Dumme bin. Das macht der nicht noch mal
mit mir. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Ich war auf jeden Fall noch
in der Stadt, hab mir ein Shirt gekauft."
"Weiß, mit einem ausgestanzten Blütenmuster an den Armen,
die Blüten sind so goldbestickt an den Rändern. Ich wollte das
schon immer ..."
"79. Ich wollte eigentlich warten bis es heruntergesetzt wird, aber
jetzt musste das sein."
"Ja, ich weiß. Aber pass auf: Ich bin mit der Bahn um kurz
vor acht gefahren. Da saß so ein Typ und las Zeitung."
"Nein, so ein Heruntergekommener mit grauen Haaren und Pferdeschwanz.
Aber die Schlagzeile: Flugzeug über Madeira explodiert – 180 Tote.
Das war seltsam. Ich wollte mit Thomas dieses Jahr nach Madeira, ich konnte
mich aber nicht an den Absturz erinnern. Nein, Moment, das muss ich noch
erklären. Die Zeitung war von Samstag. Das hat mich zuerst gewundert.
Die Wochenendbeilage lag zwischen den Teilen, die auf dem anderen Sitz
lagen. Warum liest einer am Dienstagabend die Samstagszeitung? Aber ich
konnte mich wie gesagt auch nicht an den Absturz erinnern. Das war so
komisch. Auch das Bild, wie das Flugzeug brennend abstürzt. Nichts,
ich konnte mich nicht daran erinnern. Obwohl es Madeira war."
"Doch, die hab ich gelesen. Samstag ist eigentlich der einzige Tag,
wo ich ein bisschen mehr lese, aber pass auf, jetzt kommt der Hammer.
Ich mein, das kann man bestimmt erklären ... aber ich war so geschockt.
Ich hab heute morgen die Zeitung hereingeholt und da war der Flugabsturz
drin und das Bild. Mir ist mit einem Schlag heiß geworden, ich hab
echt gezittert. Das gibt’s doch gar nicht."
"Wenn das ein Probedruck gewesen wäre, konnten die doch nicht
wissen, dass das Flugzeug abstürzt und das Bild war dasselbe. Die
können doch nicht ein altes Foto für die richtige Ausgabe nehmen."
"Ja, guck mal, was bei dir drin steht. Ich warte."
Gisela?
"Oh. Was?"
Das war nicht alles, Gisela.
"Was denn noch?"
Du hast mich vergessen. Erzähl ihr ...
"Ja? Ja, siehst du. Gestern ist das passiert. Wie konnte der ..."
"Nein, nein. Ich hab das nicht geträumt, ich hatte das Shirt
doch schon gestern an."
Gisela.
"Wart mal."
"Was ist denn?"
Gisela, du musst Christine alles erzählen. Erzähl ihr von der
Stimme, die du hörst.
"Bitte, ich weiß nicht, was hier los ist, aber das reicht doch
jetzt. Ist das Versteckte Kamera oder was?"
Gisela! Du nimmst mich nicht ernst? Soll ich ...
"Ist schon gut, ist schon gut. Ich sag's ihr."
"Christine?"
"Ja, da war noch etwas merkwürdig heute morgen. Stell dir vor,
ich hab eine Stimme gehört, die mir sagte, ich soll dich anrufen."
"Ja. Nein, ich weiß, das war sicher eine Einbildung. Ich hör
sie auch nicht mehr."
Gisela!
"Nein, ist weg. Ich war halt so durcheinander."
GISELA!
"Nein, du brauchst nicht kommen. Das wird sich irgendwie aufklären.
Die Stimme ist ja auch weggegangen."
GISE ...
Anmerkungen:
Eigentlich sollte dies nur eine Erzählvariation der Grundidee werden, die ich auch in Zeitverschwindung benutzt hatte: jemand beobachtet mitten in der Woche einen Mitfahrer in der Straßenbahn beim Lesen einer Samstagszeitung und wird am folgenden Samstag mit der unbegreiflichen Tatsache konfrontiert, dass die Zeitung aus der Zukunft stammte. Ich wollte die Geschichte in einem Telefondialog zweier Frauen erzählen, doch dann hörte ich auf einmal die Stimme von HAL, dem Computer aus "2001" und die Story ging ihre eigenen Wege. Eine geringfügig abweichende Vorversion von "Katz,
Maus, Zeitung" wurde Anfang 2003 im Leipziger Literaturmagazin "Lesestoff"
veröffentlicht.
|
||
|
|