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Aus versicherungstechnischen Gründen
Die beiden Männer in der Baumkrone trugen dunkelgrüne
Strumpfmasken, Tarnanzüge und Springerstiefel. Der eine beobachtete
mit einem Fernglas die etwa zweihundert Meter entfernte Landstraße,
der andere lag in einer Hängematte, hörte Musik über Kopfhörer und wippte
dazu mit einem Fuß im Takt. Gerade als der Beobachter das Fernglas
absetzen wollte, bog ein Mann auf einem grün-gelb gestrichenen Fahrrad
von der Landstraße ab.
Der Beobachter schwenkte zum Laborgebäude. Ein weißer Mercedes
tauchte hinter dem Gebäude auf und näherte sich auf dem schmalen
Feldweg der Landstraßenzufahrt. Der Radfahrer blieb am Ende des
geteerten Straßenstücks stehen und wartete.
"Hey, er ist da." Der Beobachter stieß den Wipper an.
Dieser nahm die Kopfhörer ab und fragte: "Hm?"
"Der Wachmann ist da."
Der Wipper guckte auf die Uhr: 17.58. "Laut Plan noch acht Stunden
und siebenundvierzig Minuten. Sehr gut. Weitermachen."
"Hörst du endlich mit dem Scheiß auf?"
"Sicher. Das waren die längsten achtzehneinhalb Stunden meines
Lebens. Nur weil dem Herrn Planungsoffizier unser ehrenwerter Späher
Zocker-Hans nicht vertrauenswürdig erschien. Und was war? Seine Angaben
waren richtig."
"Ja, glaubst du, mir hat das Spaß gemacht? Du weißt doch,
wie der ist. Du musstest ja nicht mitkommen. Hätte genausogut gereicht,
wenn du heute Nacht dazugestoßen wärst."
"Ja, ja, ist ok. Ich will nur, dass es endlich losgeht. Guck mal
lieber, was unser komischer Vogel macht."
*
Sie waren sich schon gestern begegnet, doch der Mann im weißen Mercedes
fuhr an Marc vorbei, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben – kein Gruß
mit der Hand, kein Kopfnicken, er starrte einfach geradeaus.
"Isch taufe disch auf den Namen Monsieur Le Zombie", spinnte
Marc und schwang sich wieder aufs Rad. "Monsieur Le Zombie ’abben
keine Respekt vor die Üniform. C'est unglaublisch."
Marcs "Uniform" bestand aus einem blauen Jacket mit dem Emblem
der Wach- und Schließgesellschaft, einem gelben T-Shirt, einer ausgewaschenen,
grünen Jeans und roten Turnschuhen. Die übliche, etwas dezentere
Ausstaffierung hatte er für überflüssig gehalten, da er
nicht daran glaubte, in den vor ihm liegenden zwölf Stunden einem
menschlichen Wesen zu begegnen.
Marc ließ das Fahrrad auf dem leicht abschüssigen Feldweg hinunterrollen.
Ringsherum wuchsen nichts als wilde Gräser. Auf dem Parkplatz vor
dem Gelände der Softchem AG drehte er eine Ehrenrunde und hielt schließlich
vor dem knapp zwei Meter hohen Metall-Rolltor.
Er schob seine Karte ins Lesegerät, das grüne Lämpchen
leuchtete, ein Knacken, dann rollte das Tor knirschend auf und gab Stück
für Stück den Blick frei aufs "Affenhaus".
So hatte es der Einsatzleiter genannt, als er ihm den Job für die
vier Nächte über das Pfingstwochenende angeboten hatte. Das
Affenhaus war ein zweistöckiger Flachdachbau, weiß gestrichen
mit dunkelblauen Fensterrahmen. Ein 200-Quadratmeter-Quader mitten auf
dem Land. Hier fanden die Tierversuche der Softchem AG statt.
Marc schob sein Fahrrad durchs Tor, drückte den roten Halt-Knopf,
entnahm seine Karte. Nach einigen Sekunden setzte sich das Tor wieder
in Bewegung bis es scheppernd schloss. Marc betrachtete das Gebäude.
In ihm blitzte das Bild eines verdrahteten und festgezurrten Affen auf,
der panisch kreischte. Jedes Mal, wenn er das Wort Affenhaus dachte, folgte
dieses Bild wie ein Echo. Dabei wusste niemand von der Wach- und Schließgesellschaft,
ob hier tatsächlich Affen für Versuche benutzt wurden. Der Name
leitete sich aus dem Zoo-Gestank ab, der durch die Lüftung nach draußen
drang. Das war aber auch das einzige, was das Gebäude herausließ,
ansonsten war es hermetisch abgeriegelt: Gitter vor den Fenstern; an den
Scheiben hafteten deutlich sichtbar Alarmdetektoren; innen versperrten
Metall-Rolläden die Sicht – kein Geräusch drang heraus und wahrscheinlich
auch keins hinein.
Rechts neben dem Tor stand ein Wohncontainer. Marc stellte das Rad davor
ab, öffnete die Tür des Containers und ließ einen Schwall
stickiger Luft heraus. Dann ging er zum Gebäude hinüber. Der
Kies unter seinen Schuhen knirschte in die Stille.
Neben dem Eingang, der durch ein Rollgitter versperrt war, hing eine graue
Telefonbox. Er öffnete die Klappe und wählte die Nummer der
Zentrale.
"Hier ist Marc Winkhold, ich hab den Dienst bei Softchem aufgenommen."
"Alles klar", antwortete eine Stimme, "viel Spaß
mit den Affen."
"Joo, danke. Tschüss."
Marc schloss den Kasten. "Und das, meine Damen und Herren, war die
letzte menschliche Stimme für die nächsten zwölf Stunden."
Er schaute auf die Uhr. "Ich korrigiere. Elf Stunden und siebenundfünfzig
Minuten."
Seine Stimme klang falsch an diesem Ort, der so abgelegen und verschlossen
war. Marc knirschte zurück zu seinem Rad, nahm die Kontrolluhr und
einen Nylon-Rucksack aus dem Fahrradkorb und legte sie im Container auf
dem wackligen Tisch ab. Immer noch war es drinnen stickig. Marc öffnete
das einzige Fenster und flüchtete ins Freie. Dann unternahm er einen
ersten Rundgang auf dem Gelände.
Ein Maschendrahtzaun umgab das Affenhaus in einem Abstand von rund zehn
Metern. Der Zaun - knapp zwei Meter hoch - wurde von drei Reihen Stacheldraht
gekrönt. Auf der Seite des Geländes, die zur Landstraße
zeigte, war am Zaun ein schmaler Rasenstreifen angelegt mit einigen Stiefmütterchenbeeten
und einer jungen Birke.
Auf der Rückseite des Geländes endete der Kieselbelag. Eine
leichte Staubschicht lag über dem gewalzten Boden, hie und da kämpfte
ein Wiesenbüschel ums Überleben. Acht Müllcontainer standen
in Zweierreihen um eine Betonbadewanne herum, gesichert mit dicken Ketten
und Vorhängeschlössern. Auf dieser Seite war das Gebäude
fensterlos, drei Ventilatoren beförderten leise surrend den Affengeruch
nach draußen.
Marc betrachtete die Badewanne und fragte sich wieder einmal, warum die
Leute ihren Müll putzen mussten. Um Blut abzuwaschen? Horrorbilder
stiegen in ihm auf. Er wandte sich rasch ab und schaute kurz zum Wald
hinüber, der etwa fünfzig Meter entfernt von der Umzäunung
begann. Der Anblick der windstillen Bäume beruhigte ihn wieder, aber
er zog gleich weiter – die stickige Affenhaus-Atmosphäre war hier
kaum zu ertragen.
Auch die vierte Seite des Gebäudes hatte keine Fenster. Davor befand
sich ein kleiner Parkplatz. Hinter jedem der vier Parkplätze stand
ein weiß getünchtes Eisenkreuz, an dessen Querbalken ein Nummernschild
hing.
Damit befand sich Marc wieder auf der Vorderseite des Geländes. Ganze
zwei Minuten hatte er für die Umrundung gebraucht, doch seine Rundgänge
mussten mindestens eine halbe Stunde dauern. Eine Regelung, die ihn gestern
nacht genervt hatte, denn so langsam konnte nicht mal ein Toter gehen.
Marcs erster offizieller Kontrollgang stand gegen zwanzig Uhr an. Im Gegensatz
zu gestern war dieser Abend angenehm mild. Er zog sein Uniform-Jacket
aus, legte es im Container auf den einzigen Sessel und ging hinüber
zur Birke. Marc setzte sich auf den Rasen und schaute zu ihr hoch.
"Na, Baum, darf ich Birke zu dir sagen?"
Erwartungsgemäß gab die Birke keine Antwort. Marc schaute zur
Landstraße hinüber.
"Hey, Birke, schau dir das an. Ein Auto –- wahrscheinlich das letzte
für mindestens zwei Stunden."
Er verfolgte das Auto bis es außer Sicht war.
"Autos interessieren dich nicht besonders, hä? Kann ich verstehen.
Wär ich ein Baum, würd ich bei Nacht auch keinem Auto begegnen
wollen. Aber was machst du eigentlich hier an diesem ... seltsamen Ort?
Weißt du nicht? Ich auch nicht."
Marc deutete mit dem Daumen auf das Gebäude.
"Wie soll irgendjemand da rein kommen? Und selbst wenn es jemand
versucht, was soll ich dagegen machen? Hoffen, dass die Herren Einbrecher
mich mal ans Telefon lassen, für eine Durchsage an die Zentrale?
Hast du gehört, was der Einsatzleiter gestern Abend bei der Einweisung
gesagt hat? Aus versicherungstechnischen Gründen würde hier
jeden Abend jemand abgestellt. Aus versicherungstechnischen Gründen.
Schon mal so etwas gehört? Warum nicht aus bananenrechtlichen oder
käferorthopädischen Gründen? Das hört sich für
mich genauso sinnvoll an."
Marc schaute wieder hoch zur Birke. Ein Windhauch ließ ihre Blätter
rascheln.
"Ja, das mein ich auch. Viel Wind um nichts. Der Witz ist, das ist
hier so scheiß einsam, ich würde jeden jubelnd in die Arme
schließen, der sich hier blicken lässt."
*
Der Beobachter ließ das Fernglas sinken. "Das ist ja 'n Ding.
Hier, guck mal."
Er stieß den Wipper an. Der öffnete die Augen, sah den Beobachter
fragend an. "Was ist los?"
"Hier, guck mal."
Der Wipper nahm das Fernglas, richtete sich vorsichtig in der Hängematte
auf und suchte eine Lücke durch die dichte Blätterwand. Verblüfft
zog er die Augenbrauen hoch: "Was macht der da? Spricht der mit der
Birke?"
"So sieht's aus", bestätigte der Beobachter.
"Au, Mann, der Typ ist doch bekloppt. Der macht sich in die Hose,
wenn wir da auftauchen. Ich bin dafür, dass wir nicht lange warten,
sondern gleich zuschlagen. Das ist kein Wachmann, das ist ’ne Lachnummer."
Der Beobachter schüttelte den Kopf.
"Nein, es bleibt beim Plan. Das ist abgesprochen und wir werden die
Operation nicht durch Eigenmächtigkeiten gefährden. Vielleicht
wird’s einfacher als wir dachten, aber am Plan ist nicht zu rütteln."
Der Wipper gab dem Beobachter das Fernglas zurück und ließ
sich behutsam in die Hängematte zurücksinken.
"Jawoll, Herr Planungsoffizier. Mit allem Respekt, Herr Planungsoffizier,
alles andere hätte mich auch gewundert."
Der Beobachter ignorierte den Spruch und hob wieder das Fernglas.
*
"Weißt du übrigens, dass man mich für bekloppt halten
würde, wenn mich hier jemand mit dir reden sähe? Ja, wirklich.
Leute, die mit ihren Hunden reden, das geht noch; Leute, die mit ihren
Blumen reden, sind schon etwas verdächtig; aber einer, der mit einem
Baum redet: Oh-oh, der muss bekloppt sein. Letztens hat ein Japaner mit
Wasser geredet und von den Wasserkristallen Fotos gemacht. Stell dir vor:
Wasser hört zu und versteht sogar, was man ihm sagt. Zweifellos ist
der Mann ein Scharlatan, weil wissenschaftlich ist das bestimmt nicht,
und das allein zählt: harte Fakten, wie zum Beispiel, dass es hier
keine Vögel gibt. Da drüben ist ein ganzer Wald mit Kumpels
von dir und ich höre keinen einzigen Vogel zwitschern. Liegt das
an dem Gestank, der aus der Lüftung herauskommt? Willst du meine
Theorie hören? Ich glaub kaum, dass Gestank Vögel abschreckt.
Wer Würmer und Aas frisst, dem kann so etwas nichts ausmachen. Nein,
es ist nicht der Gestank als Gestank, sondern da ist etwas in den Ausdünstungen
drin, das jedes lebende Wesen einen großen Bogen um dieses Gelände
machen lässt. Frag mich mal, wie es mir gestern Nacht gegangen ist,
als ich hier ums Gebäude schlich. Klar, ich habe zu viel Phantasie,
aber hörst du hier irgendetwas?"
Marc verfiel in düsteres Schweigen. Plötzlich sah er einen weißen
Schmetterling über die Wiese flattern. Der Schmetterling kam näher,
flog durch den Maschendraht und ließ sich auf einem Stiefmütterchen
nieder.
"Sieh dir das an", sagte Marc leise zur Birke. "Dieser
Schmetterling ist mutwillig auf das Gelände der Softchem AG eingedrungen.
Ich sollte einen Bericht darüber schreiben. Da muss aus schmetterlingstechnischen
Gründen etwas gegen unternommen werden. Außerdem kann ich Schmetterlinge
wohl von der Liste lebender Wesen streichen. Blöder Schmetterling."
Kurz vor Mitternacht zog Marc seinen Dienstpullover über und schnallte
die Kontrolluhr für die dritte Runde um. Die ersten beiden Runden
hatte er ausgelassen absolviert. Da bei jedem Rundgang die Reihenfolge
der Kontrollpunkte variabel sein sollte, war er kreuz und quer übers
Gelände gerannt und hatte auch einen artigen Diener vor der Birke
nicht vergessen. Bei der zweiten Runde war er bereits um Viertel vor
zehn losgezogen, um sie noch in der heranziehenden Dämmerung beenden
können. Die dritte Runde würde anders laufen.
Marc nahm die Taschenlampe und warf einen Blick aus dem Containerfenster.
Er blieb vor der Tür stehen, schaute noch mal auf die Uhr, wartete
etwas und stieß die Tür schließlich auf. Er ging einige
knirschende Schritte, dann blieb er stehen. Stille.
Das Affenhaus war abweisend wie immer: Ein stummer, grauer Block mit
dunklen Fensterhöhlen, nur über dem abgesperrten Eingang verbreitete
eine abgedeckte Neonröhre ein schwaches blaues Licht.
Wieder knirschten Marcs Schritte durch die Stille, als er auf den Eingang
zustrebte. Direkt neben der Telefonbox befand sich ein Schlüsselkasten.
Marc leuchtete ihn mit der Taschenlampe an, hob die Klappe, nahm den
an einer Schnur befestigten Schlüssel, steckte ihn in die Kontrolluhr
und drehte zwei Mal herum. Er verstaute den Schlüssel im Kasten
und entfernte sich rasch in Richtung Birke.
Marc blieb neben der Birke stehen, schaute hinüber zur Landstraße.
Es schien kein Leben mehr auf diesem Planeten zu geben. Er griff nach
einem Zweig und streichelte über die Blätter. Dann blickte
er auf das Gebäude zurück. Visionen von Ratten, die sich von
innen durch die Wände bohrten, Affen, die durch geschlossene Fenster
sprangen, überfielen ihn, doch das Haus ragte nur stumm und verschlossen
in die Dunkelheit.
Innerlich zitternd setzte er seinen Gang fort, hielt sich dabei möglichst
vom Gebäude entfernt. Er ging an der Vorderseite vorbei auf die
Seite mit den Parkplätzen zu. An der Ecke befand sich der nächste
Schlüsselkasten. So rasch wie möglich erledigte er die Kontrollprozedur
und lief dann am Zaun entlang. Als er auf Höhe der Rückseite
des Hauses angekommen war, blieb er stehen und beleuchtete die Müllcontainer.
Der Kontrollpunkt war diesmal am Eckzaunpfahl angebracht. Marc behielt
die Müllcontainer im Auge, den Schlüssel dieses Kästchens
ließ er gleich draußen hängen. Der Gestank auf der
Rückseite war eine Kleinigkeit gegen die Horrorvorstellung, dass
irgendetwas in den Containern rumorte. Marc blieb am Zaun. Der nächste
Schlüsselkasten war an der Gebäudewand dort angebracht, wo
eine Gasse für die Betonbadewanne freiblieb. Marc beleuchtete den
Weg zwischen den Tonnen, ließ den Lichtkreis der Taschenlampe
ausgiebig auf jedem Müllcontainer ruhen.
"Ruhig, Junge, ganz ruhig, es sind nur dämliche, fest verschlossene
Mülltonnen", versuchte Marc sich Mut zu machen. Mit dem ganzen
Körper horchend, sehend und fühlend ging er rasch auf den
Kontrollkasten zu. Fahrig entnahm er den Schlüssel, drehte ihn
zwei Mal in der Uhr, ließ ihn am Band baumeln und entfernte sich
fast schon laufend zwischen den Containern.
Als er wieder auf der Landstraßenseite des Geländes war,
ließ seine Panik endlich nach. Er schaute auf die Uhr. Es war
erst zehn nach zwölf, also würde er noch eine Viertelstunde
warten müssen, bevor er den Kontrollpunkt auf dieser Seite ansteuern
konnte. Marc gesellte sich zur Birke und wartete.
*
Gegen Viertel vor zwei entdeckte der Wipper mit dem Fernglas ein Auto,
das sich auf dem Feldweg dem Softchem-Gelände näherte.
"Scheiße!"
Alarmiert richtete sich der Beobachter in der Hängematte auf.
"Was ist los?"
"Da kommt ein Auto."
"Was für ein Auto?"
"Was weiß ich, aber Polizei ist es nicht."
"Und der Wachmann?"
"Seh ich nicht."
Der Wipper ließ das Fernglas sinken. Das Auto war hinter dem Gebäude
außer Sicht.
"Und jetzt?"
"Abwarten, wir können nichts anderes tun als abwarten",
sagte der Beobachter.
"Scheiße, Mann, und wenn er jetzt Verstärkung kriegt,
dann können wir die Sache vergessen und ich hab hier die längste
Zeit meines Lebens wie ein Affe auf’m Baum gehockt."
"Gib mir mal das Glas", forderte der Beobachter.
"Warte. Die Karre fährt wieder weg."
Der Wipper presste das Fernglas an die Augen.
"Fehlt einer?"
"Ich weiß nicht."
"Wie – du weißt nicht?"
"Das Glas ist zu schwach."
"Verflucht noch mal, hast du nicht gesagt, es ist das beste, was
es für Geld zu kaufen gibt? Und jetzt, wo’s wichtig ist, siehst
du nichts. Klasse."
"Der Verkäufer hat gesagt, es hätte Nachtsicht bis 150
Meter."
"Aha. Und du hast das auch natürlich sofort überprüft,
was?"
Der Beobachter atmete hörbar ein und aus. Er wägte das neue
Risiko ab.
"Egal, wir ziehen das durch. So lange wir da unten keinen zweiten
Typen herumlaufen sehen, bleibt’s beim Plan. Vielleicht war’s nur eine
Kontrolle, ob der Typ noch wach ist. Komm, lass uns wieder tauschen."
Diesmal sagte der Wipper nichts, gab das Fernglas ab und räumte
den Beobachtungsposten.
*
Marc hatte schon längst resigniert sein Buch zur Seite gelegt und
nur noch vor sich hin gedöst, als er plötzlich ein Auto hörte.
Er schnappte sich die Taschenlampe und rannte aus dem Container.
Durch den Zaun beobachtete er das näher kommende Fahrzeug. Es hielt
kurz auf dem Parkplatz, zwei Männer schauten zu ihm herüber.
Der Beifahrer schüttelte den Kopf. Der Fahrer wendete den nicht
mehr ganz frischen Golf und Marc sah den kleiner werdenden Rücklichtern
bis zur Landstraße nach.
„Schade’, dachte Marc und ihm fiel eine alte Liedzeile ein:
"Hätt ich dich heut erwartet, hätt ich Kuchen da, Kuchen
da, Kuchen da." Er lächelte. „Wo hab ich das bloß
her? Auf jeden Fall kein gutes Zeichen. Das Versuchskaninchen wird langsam
debil.’ Er warf einen Blick auf die Uhr. „Dann wird Seine
Debilität mal den nächsten Rundgang durch sein Reich starten.’
Dieses Mal hatte Marc keine Probleme, außer dem üblichen,
den Gang so lang zu strecken, dass er der Vorschrift genügte. Ein
leichtes Unbehagen blieb, wenn er sich ganz nah am Affenhaus aufhielt,
aber er versuchte, sich darüber lustig zu machen, tätschelte
sogar ein, zwei Müllcontainern die Haube.
Als er wieder in seinem Wohncontainer saß, war die Müdigkeit
verflogen. Marc kramte die Tageszeitung aus seinem Rucksack. „Ob
ich in die Zeitung komme?’ überlegte er, „Tapferes Wachmännlein
wehrt Angriff des Killergolfs ab. Das wär doch mal eine Schlagzeile.
Dazu ein Kommentar auf Seite zwei, der die Tapferkeit des einfachen
Wachmännleins lobt und die Zuckerstrafe für Golftanks fordert.
Joo!’
*
Der Wipper rollte die Hängematte zusammen und stopfte sie in seinen
Rucksack, während der Beobachter weiter das Softchem-Gelände
im Auge behielt.
"Ich geh eben pissen", verkündete der Wipper und stieg
einige Äste weiter. "Das ist das einzig Wahre an diesem Job.
Vom Baum pissen, da hab ich schon als Kind von geträumt."
Als der Wipper zurückkam, schaute der Beobachter auf die Uhr: 2.41.
"Bist du fertig?"
"Jawoll. Fertig, Herr Planungsoffizier."
Der Beobachter warf dem Wipper einen finsteren Blick zu, dann hielt
er ihm das Fernglas hin.
"Hier halt mal. Ich muss auch noch mal pinkeln. In vier Minuten
geht es los."
*
Um kurz vor drei amüsierte sich Marc mit den Kontaktanzeigen. "Pfundsfrau,
46, 1,68, naturverbunden sucht ihn, 40-50, fürs gemeinsame Wandern
durch die Natur und das Leben", las er. "Hmmm. Darf ich Sie
für immer durch die Auen des Lebens rollen?" Die nächste
Anzeige lautete: "Überrasche mich! Verwöhne mich! Liebe
mich! Sie 32, 1,73, langes, blondes Haar sucht Märchenprinzen zum
Pferdestehlen."
"Oh, là, là. Sind wir aber anspruchsvoll. Da lob
ich mir doch meine bescheidene Birke." Plötzlich sprang Marc
auf. "Halt aus, Geliebte, ich komme. Ich überrasche dich,
ich verwöhne dich, ich liebe dich." Er riss die Tür des
Containers auf und rief laut: "Überraschung!"
*
Der Wipper kroch gerade durch den Zaun, während sich der Beobachter
abklopfte, als plötzlich jemand "Überraschung!"
rief. Der Wipper erstarrte, der Beobachter duckte sich und schaute umher.
"Schnell, zu den Containern."
Hektisch wurstelte sich der Wipper durch das enge Loch. Dann eilten
die beiden Männer hinüber zu den großen Tonnen.
*
Marc lief zur Birke hinüber. "Na, freust du dich? Weißt
du was? Ich werde eine Ehrenrunde drehen. Ja! Und ich widme sie den
Überraschenden, den Verwöhnenden und den Liebenden. Halte
aus, mein Schatz, ich bin gleich wieder bei dir."
Er holte die Kontrolluhr aus dem Container, lief zur Tür des Laborgebäudes,
drehte den Schlüssel zwei Mal; lief zur Birke, fuhr mit der Hand
durch ihre Blätter; ging weiter zum Kontrollpunkt auf dieser Gebäudeseite,
erledigte mit Schwung die Schlüsselprozedur und bog um die Ecke.
Der Anblick der stillen, dunklen Container ernüchterte ihn etwas.
Marc überlegte, ob er nicht die Taschenlampe holen sollte, doch
er ließ es und ging auf die Container zu. Die Ventilatoren surrten
leise, eine fast erstickende Dunstglocke hüllte Marc ein. Er ging
durch die erste Containerreihe, sein Herz klopfte bis zum Hals. Er ging
durch die zweite Containerreihe. Plötzlich spürte er eine
Bewegung hinter sich, wollte sich umdrehen, doch etwas Hartes krachte
auf seinen Hinterkopf. Er fiel mit der Schläfe auf den Rand der
Betonwanne, es gab ein Knacken und ...
*
Zögerlich kamen die zwei Männer zwischen den Containern hervor.
Sie hatten ein derartiges Knacken noch nie gehört und wussten dennoch
instinktiv, was es bedeutete. Der eine leuchtete mit der Taschenlampe
den am Boden liegenden Körper ab. Von den Beinen aus wanderte der
Lichtkegel aufwärts bis zum Gesicht: Die Augen des Wachmanns starrten
ins Leere.
"Scheiße! Scheiße, scheiße, scheiße. Muss
der Idiot auf die Wanne knallen."
Er schaute hinüber zum anderen Mann. "Ich hab gar nicht so
fest zugeschlagen. Was machen wir jetzt?"
Der andere Mann starrte den Toten an. Plötzlich schlug er mit der
Faust auf einen Container. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal.
"Du verfluchter Idiot. Wer hat gesagt, dass du ihm eine verpassen
sollst?"
"Ja, was sollte ich denn machen? Der hätte uns doch entdeckt."
Der andere Mann schlug noch mal mit der flachen Hand auf den Müllcontainer.
"Verfluchter Mist." Er versuchte sich zu fassen. "Los,
lass uns verschwinden."
"Und was ist mit den Tieren?"
"Was soll mit den Tieren sein? Ist doch scheißegal, was mit
den Tieren ist. Der Typ ist tot. Tot, verstehst du? Ende, aus, finito,
für immer. Wir wollten Leben retten und nicht ..."
Der Mann mit der Taschenlampe sagte nichts. Statt dessen knipste er
die Lampe aus.
"Ich kann doch nichts dafür. Es war ein Unfall."
Der andere Mann klappste ihm beruhigend auf die Schulter. "Komm,
wir müssen weg hier. Es ist besser so."
Die Leiche wurde am nächsten Morgen gegen halb sieben von einem
Softchem-Mitarbeiter entdeckt, der zwei prallgefüllte blaue Müllsäcke
entsorgen wollte. Geschockt ließ er die Säcke fallen und
rannte zurück ins Haus.
Schon bald wimmelte es auf dem Gelände von Polizisten und anderen
wichtigen Leuten, denn die Führungskräfte der Softchem AG
sowie der Wach- und Schließgesellschaft waren gleich zusammengetrommelt
worden.
In einer ersten Stellungnahme der Softchem AG drückte das Unternehmen
den Hinterbliebenen sein Mitgefühl aus und wies darauf hin, dass
der oder die Täter möglicherweise im Umfeld radikaler Tierversuchsgegner
zu finden seien.
Die örtlichen Tierschutzgruppen wehrten sich gegen diese Unterstellung
und warfen dem Unternehmen vor, Politik auf Kosten eines Toten zu machen.
Es gab für zwei Wochen ein öffentliches Hin und Her - Leserbriefe
inklusive -, dann verschwand das Thema aus der Öffentlichkeit.
In den ersten vier Wochen nach dem tödlichen Vorfall sicherte die
Polizei das Gelände. Die Softchem AG wies aus Kostengründen
den Vorschlag der Wach- und Schließgesellschaft zurück, in
Zukunft zwei Wachmänner einzusetzen. Statt dessen investierte sie
einmalig in eine Videoüberwachungsanlage, die nachts von einem
eigenen Mitarbeiter innerhalb des Gebäudes kontrolliert wurde.
Zur Beerdigung des Wachmanns schickte das Unternehmen einen Kranz.
Anmerkungen:
Mein bisher längster Probelauf, der davon profitierte, dass ich während meiner Studentenzeit ein paar Einsätze als Nachtwächter hatte. Erzähltechnisch gesehen war dies ein erster Versuch wie mit der Kameraperspektive in einem Film zwischen den Handelnden hin- und herzuschalten. |
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