5. Kreuzweise
Kreuzspinne
Kreuzotter
Kreuzbandriss
Kreuzigung
Kreuzschlitzschraube
Es gibt viele schöne Sachen, die mit Kreuz anfangen. Unser Thema soll selbstverständlich die Dings sein, die unter ihren Opfern genauso beliebt ist wie Vogelscheiße auf ’nem neuen Jackett. Der Gag einer Dings besteht in der Verkomplizierung der einfachen Beziehungskiste „ein Langfinger, ein Fob, ein Ziel“ durch eine Konstellation mit zwei Langfingern, einem Fob und zwei Zielen, wobei sich die Angriffsbahnen auf dem Feld des wahrlich angeschissenen Fobs kreuzen.
Mich deucht, als wär ein Bildchen zur Verdeutlichung dieses Tatbestands jetzt genau das Richtige. Da isses auch schon:
Dia 42:
Spraggett - King
London 1985
dia 42
Schauen wir uns das Trio Turm B., Turm E. und König G. VII an. Der Te7 ist gefesselt, er kann die 7. Reihe nicht verlassen, doch wen kümmert’s? Eine Fesselung, bei der Langfinger und Fob auf der selben Welle funken, das Fob also selbst dem Langfinger einen Wellensalat an den Kopf werfen kann, ist nicht besonders stabil. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, so eine Fesselung bei Laune zu halten: Entweder wird der Gegner mit Schach-, Matt- oder irgendeinem anderen der Zehn Gebote herumgescheucht, oder man veranstaltet einen Ausflug ins Heilige Land nebst Abschlachtung einiger Andersgläubiger, kurz Kreuzzug genannt: 1.Td8-e8.
Die Fesselung vor dem König verhindert 1. ... Te7xe8, die vor der Dame 1. ... Te7xb7, nur 2.Te8xe7 kann nicht mehr verhindert werden, es sei denn man hat Bock auf eine Zugabe: 1. ... Se5-d7 2.Te8xe7 De6xe7 3. Dc2xc6. Und wenn das kein Trost ist, dann müsste es eine Dings sein, und die baut man am einfachsten mit einem Kreuzzug, und der setzt voraus, dass bereits eine Fesselung auf dem Brett herumlungert, und falls das der Fall ist, dann erledigen Sietzi & Bautzi in gewohnter Maniküre den Rest: Völlig geräuschlos und mit ohne Zeugen.
Dia 43:
Dontschenko - Giri
Reykjavik 2017
dia 43
Anish Giri ist einer der größten Remisschieber aller Zeiten. Das hat auch der letzte Klötzchenschubser spätestens mit dem Kandidatenturnier 2016 mitbekommen. 14 Remis in 14 Spielen! Und dass gegen solche Typen wie Anand, Aronjan, Caruana oder Nakamura. Kann er nicht ordentlich verlieren wie jeder andere Klötzchenschubser auch?
Auch in dieser Partie hat sich Giri alle Mühe gegeben, Remis zu machen. Seine sämtlichen Figuren stehen in den Ecken rum, damit sie auf keinen Fall einen gewinngierigen Eindruck erwecken, nur der Bauer auf e3 hat sich verlaufen, warum auch immer, wahrscheinlich musste er mal.
Dummerweise haben Sietzi & Bautzi Giri nach Island begleitet, was zu eiskalten Konsequenzen führt, denn er sieht sie: die Fesselung eines Läufers durch einen Läufer vor einem Springer. Der Ld5 kann sich nicht aus der Diagonale a8-h1 verpuffen, weil das Hüpftier kahl auf’m Feld steht und der Eiswind La8xe4+ nach Kh1-g1 und e3-e2+ (Wo is’ Klo?) den König allerkürzestens schockgefriert. Und er baut sie: die Dings 1. ... Dg7-f7. Nun ist der Läufer auch noch vor der Eiskönigin gefesselt. Jeder Widerstand ist punktlos. Selbst Rutschereien wie 2.Se4-f6 würden mit 2. Tc8-c5 glatt gekontert. Dontschenko heulte ’ne Runde, weil er verpasst hatte, in dieser langweiligen, remisgierigen Stellung ein ebensolches anzubieten, gab auf und tröstete sich mit Eislaufen auf seiner neuen Tränenschlittschuhbahn
Doch genug der Tränen, werfen wir lieber ein Auge auf die nächste Stellung.
HALT! Kontaktlinsenträger entfernen bitte vorher die Linse. Sie könnte beim Aufprall zu Schaden kommen.
Fertig? Dann los:
Dia 44:
Ribli - Adorjan
Ungarn 1983
dia 44
Zu Beginn dieses Kapitels hat jemand behauptet –- wahrscheinlich der Autor, die dumme Nuss –-, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, eine fesselnde Beziehung zwischen zwei gleichfunkigen Figuren aufrechtzuerhalten, bis dass die Null sie scheidet: eins der Zehn Gebote oder ein Kreuzzug. Sie haben ihm natürlich kein Wort geglaubt. In der Tat ist diese Aussage nicht nur völlig korrekt, sie stimmt sogar zu zwei Dritteln. Das fehlende Drittel ist der kreuzige Subtraktionsangriff: 1. ... Lc4-f1. Das Matt durch Tc8xc1xd1 hindert die weiße Lady daran, der schwarzen Puppe einen Scheitel zu ziehen. Da sie es außerdem im Kreuz hat, beantragte Ribli eine Null.
 
Rein schachlich betrachtet waren die gezeigten Beispiele für das Aufmotzen einer Fesselung zu einer Dings nicht von der Sorte, die einen vom Töpfchen reißt, obwohl ein ausgerutschter Remisschieber auch mal ganz nett ist. Interessanter wird die Chose, wenn noch keine Fesselung die Partie beglücken tut, die gesamte Dings also in einem Rutsch produziert werden muss. Die Kiste läuft im Normalfall so ab, dass ein Fob via Duisburger in eine Fesselung gezerrt wird, wo es dann sofort mit einem Kreuzzug oder einem kreuzigen Subtraktionsangriff was auf ’s Holzauge bekommt, ein Duisburger plus also.
In den folgenden Beispielen werden vier Arten von Duisburgern plus irgendwas Kreuzendes präsentiert: eine Figur tauschen, ein Schach spendieren, ein Matt drohen und zwei Tassen Kaffee trinken.
Dia 45:
Addison - Steinmeyer
USA 1963/64
dia 45
Addy tauschte 1.Tb2xb5
und lauschte 2. ... Tb7xb5
auf den Schrei. 2.Da2-a4.
Es war sofort vor- 2. ...
über.
Übrigens durfte Addy die Tauscherei nicht mit 2.Tb1xb5 Tb8xb5 übertreiben, da die einfache Fesselung 3.Da2-a4 so wertlos ist wie das „Guten Morgen“ eines Bullen: 3. ... Tb5-b7.
 
Dia 46:
Bisguier - Evans
USA 1959
dia 46
 
Als Columbo vor 5000 Jahren die Vereinigten Salate entdeckte, hat er garantiert nicht geahnt, dass sich aus diesem Haufen Bisonscheiße einmal das Land der unbegrenzten Tödlichkeiten entwickeln würde. Tatsächlich glaubt man da drüben noch immer an eine Besserung von Straftätern durch ihre Hinrichtung. Auch im Sport lieben die Amis das Spiel bis zum bitteren Ende, mit der Krönung durch den „Sudden Death“-Modus. Immer muss es einen Sieger und einen Besiegten geben. Dazwischen existiert nichts, kein Unentschieden, kein Remis, höchstens Werbeminuten.
Wer will es Evans da krummnehmen, wenn er ziemlich unruhig auf seinem Stuhl rumrutscht, zumal 1.Da7-a3+ äußerst elektrisierend wirkt. Nach 1. ... Kf8-g8 2.Le4xh7+ sprühen bereits die Funken, aber was ist mit 1. ... De6-e7? Ein Aufschub in letzter Sekunde? Nein, ein Kurzschluss: 2.Le4-c6.
Nur gut, dass Evans außer dem Probesitzen auf Feuerstühlen auch noch ein anderes Hobby hat. Er denkt sich für sein Leben gern Gambite aus. Sein letztes hat er erst vor kurzem erfunden. Das ist jetzt höchstens ein, zwei, den wievielten haben wir heute? Den 06.03., also höchstens ein, zwei Jahrhunderte ist das jetzt her.
 
Nach dem Tausch-, dem Schach- und vor dem Zwei-Tassen-Kaffee-Duisburger kommt nun der mit dem Matt.
Dia 47:
Rada - Kostal
Prag 1942
dia 47
1942 war ein Scheißjahr – besonders für Beerdigungsinstitute. Obwohl gestorben, abgekratzt, massakriert und abgeschlachtet wurde wie nie zuvor, verzeichneten die Bestattungsinstitute dramatische Umsatzeinbußen. Das lag in erster Linie an der neuen Mode, Leute nicht nur in Massen umzubringen, sondern sie auch in Massengräbern zu beerdigen, falls noch etwas zum Beerdigen übrig blieb. Es ging wirklich abwärts mit der Zivilisation, wenn selbst ein ehrbarer Bestattungsunternehmer bei so vielen Toten nicht mehr sein täglich Brot verdienen konnte.
Verglichen mit dieser großen menschlichen Tragödie hatte „Das kleine Prager Zugunglück“, wie der Name schon sagt, bescheidenere Ausmaße:
Weiß grabschte den Läufer 1.Tb1xb2 und bekam dafür was auf die Fingers 1. ... Tb7xb2. Nicht blöd, packte er daraufhin das Salztöpfchen aus, um mit 2.Dd3-d4 dessen Inhalt in die schwarzfeldrigen Wunden zu streuen. Turm und König bittelten und bettelten die schwarze Mama an, bis sie dann schließlich in die Fesselung vor dem Feld g7 ging: 2. ... Da5-e5. Dieser Zug erwies sich jedoch als ihr Unglück, denn 3.Tf1-e1 schmiss die Mama aus der Bahn.
In der Schlussstellung ist die schwarze Dame einerseits vor einem Turm, andrerseits vor einem Feld gefesselt. Diese Feststellung überrascht hier sicher niemanden mehr, und auch den Menschen draußen im Lande an den Bildschirmen und CD-Playern – dieses Buch wird tatsächlich auf CD übertragen; kleine, grüne Männchen haben sich dankenswerterweise bereit erklärt, den ganzen Stuss in den 1-0-Code zu übersetzen – ist seit dem ersten Kapitel längst klar, dass es mehr Fesselungsziele gibt als den König oder eine wertvolle Figur.
 
Bevor der mit Spannung erwartete Zwei-Tassen-Kaffee-Duisburger serviert wird, möchte ich eine weitere nicht ganz so dramatische Erkenntnis aufdecken:
Es ist überraschend, dass Spieler, die selbst in schlechten Zeiten besser sind als Sie, ich, die Leserinnen und Leser, der Autor und die Menschen draußen im Lande, eine so gewalttätige Aktion, wie sie die Kreuzfesselung darstellt, nicht rechtzeitig wahrnehmen. Woran liegt das?
Darauf gibt es zwei Antworten. Die eine fängt mit „Keine Ahnung“, die andere mit Dia 4 an.
Erinnern Sie sich? In Dia 4 standen sich auf einer offenen Linie zwei schwarze Türme und ein weißer gegenüber. Niemand würde in einer derartigen Situation an eine Fesselung denken. Das ist auch weiter kein Wunder, weil in 99% aller Fälle die Beachtung der gegenseitigen Schlagetotmöglichkeiten ausreicht. Doch gerade diese Konzentrierung auf die gegenseitige Angriffsbeziehungskiste verhindert die rechtzeitige Wahrnehmung einer mangelnden Beweglichkeit aus der Angriffslinie raus, also einer Fesselung. Dafür sind die Dias 42 und 44 erschreckend simple Beispiele. Dort fesselte ein Turm einen Turm beziweis eine Dame eine Dame vor einem König. Diese Figurenkonstellationen wurden aufgrund der Dominanz der gegenseitigen Schlagmöglichkeiten nicht als Fesselungen wahrgenommen – bis die Dings das Gegenteil bewies.
Mein Vorschlag: Schauen Sie sich doch mal Ihre letzten zehn oder zwanzig Partien daraufhin durch, ob dort solche krummen Fesselungen zwischen Figuren, die sich gegenseitig platt machen können, vorgekommen sind. Auch wenn diese Konstellationen meistens keine große Rolle spielen, weil sie durch Abtausch ganz schnell von der Brettfläche verschwinden, wäre es nicht schlecht, einen Blick für diese Sachen zu bekommen, bevor die Dings Sie schneidet. Überhaupt sollten Sie mal eine Sightseeingtour durch Ihre Partien unternehmen, um Ihre eigenen Erfahrungen mit Fesselungen aller Art zu begutachten. Vielleicht haben Sie es gar nicht nötig, sich ein Leerbuch über Langfinger, Fobs und Ziele reinzuziehen.
Aber bevor Sie ein Auge in Ihre Partiensammlung werfen – Vorsicht! Kontaktlinsenträger ent ... nee, den hatte ich schon. Also kurz gesagt: Vor eine Sightseeingtour haben die Götter den Zwei-Tassen-Kaffee-Duisburger gesetzt.
Dia 48:
Dahl - Schulz
Irgendwo in Deutschland
dia 48
Die Götter müssen verrückt sein. Der Zwei-Tassen-Kaffee-Duisburger wurde zwar schon eine Million Mal angekündigt, trotzdem muss ich Ihnen unbedingt vorher erzählen, was gerade passiert ist.
Nachdem der Vortrag über die philosophischen Grundlagen einer Dings endlich im Kasten war, hab ich noch schnell Dia 48 fertiggestellt und mich dann auf meinen Drahtesel geschwungen, um mir in der Stadt was hinter die Kiemen zu schieben. Unter anderem bin ich auf meinem Weg auch an einem Busparkplatz vorbeigekommen.
Da parkten Busse drauf!
Und auf einem dieser Busse stand in großen, blauen Lettern: DER KLEINE DUISBURGER.
Klar, das musste ein Zeichen sein. Nur was wollten die Götter damit sagen?
Ich grübelte mir das Hirn krümelig und ganz langsam – wie die Haare in meiner Nase – wuchs in mir eine Erkenntnis. Die Botschaft konnte nur lauten: „Laber nich’, servier die Kombi.“
Herr Dahl räumte 1.e5-e6 und lenkte hin 1. ... Lg4xe6, drohte 2.Le3-d4 und lenkte ab 2. ... f7-f6, attackierte 3.Dg3-g4 und langte zu 1:0.
Und wo sind die zwei Tassen Kaffee?
Unterwegs. Sie sitzen im Zug 2.Le3-d4. Läufer nach d4 ist einer der seltenen Momente in der Geschichte der Menschheit, in denen es gelang mit einem Zug zwei verschiedene Fobs (Le6 und f-Bauer) vor zwei verschiedene Ziele (Kg8 und g-Bauer) zu zwingen, denn 2. ... f7-f6 musste sein, da 2. .... g7-g6 wegen 3.Dg3-e5 keinen überzeugenden Eindruck machte. So aber stand der Le6 von allen guten Regenschirmen verlassen im schüttenden Nass. Sein Privatschirm, der f-Bauer, hatte mit dem Sturm auf g7 zu kämpfen, der nach 3.Dg3-g4 das Aufspannen 3. ... f6-f5 verhinderte.
Eine vergleichbar herausragende Leistung ist eigentlich nur von Emma Lucaczewsky aus Supperville im Bundesstaat Ohio (USA) bekannt.
Jetz’ kommse.
Ihr gelang es, in einem Zug gleichzeitig und simultan zwei Tassen Kaffee auszutrinken, ohne einen Tropfen zu verschütten.
Herr Dahl bekam für seine Leistung einen Punkt und ein Dia in diesem Buch, Emma Lucaczewsky erhielt die Hauptrolle in „Pretty Woman“.
Was lernen wir daraus?
There’s no business like chessbusiness.