Probeläufe
100 m
200 m
400 m
800 m
 
Ich und die Prinzessin
Glaub es mir, glaub es mir nicht. Glaub es mir, glaub es mir nicht. Ob du’s glaubst oder nicht, ich habe eine echte Prinzessin getroffen in der Nacht in der Stadt, und das kam so:
Ich war ihnen wieder mal entkommen. Für mich kein Problem, ich bin ein Wunderkind. Obwohl erst fünf, kann ich lesen, schreiben und rechnen, dass dir die Nase aus dem Gesicht fällt. Und wenn ich Klavier spiele, fangen alte Frauen an zu heulen und die jungen kucken ganz komisch.
Papa war noch auf der Arbeit, Mama für einen Schwatz bei der Nachbarin. Chance gesehen, Chance ergriffen, fitsch-fitsch war ich weg.
Unsere Oma sagt immer, ich bin ein Ego-Kind. Das stimmt aber gar nicht. Natürlich weiß ich, dass Mama und Papa sich Sorgen machen, wenn ich abhau. Aber die Lichter der Stadt in der Nacht: Das muss ich gesehen haben – jedes Mal wieder.
Es ist nicht leicht für einen Kleinen wie mich, im Dunkeln durch die Straßen zu marschieren. Wer hat schon mal einen kleinen Jungen am Abend spazieren gehen sehen? Allein! Nein, das kann nicht sein. Da stimmt doch was nicht. "Wo ist deine Mama?" Bis ich denen erklärt hab, dass ich ein Wunderkind bin, gibt’s ein großes Straßentreffen.
Ich geb zu, beim ersten Mal haben sie sich mich schnell geschnappt, weil ich an sowas nicht gedacht hatte. Aber diesmal war ich schlauer. Am besten man rennt auf irgendein Ziel zu. Ein Kind, das rennt, ist nicht so verdächtig. Vielleicht rennt es zu seiner Mutter oder woanders in der Nähe hin. Es kann auf jeden Fall nicht weit vom Ziel sein, denn lange kann ein Kind nicht rennen. An Geschäften kann man eine Pause machen (wenn sie noch auf sind), weil Mama wahrscheinlich drinnen einkauft.
Der Weg von uns zu Haus in die Stadt ist nicht schwer. Unsere Straße lang, dann rechts die lange Straße runter, durch den Bahnhof und ich bin drin in der Stadt. Die lange Straße hat ein paar Geschäfte, strategisch (Strategie!) gut verteilt, aber nicht mehr alle waren offen.
Ich kam gut durch, nur kurz vorm Bahnhof fitschte ein Skateboard an mir vorbei in die Blumentöpfe vor dem Blumengeschäft. Die anderen Skateboardblödmänner lachten den Oberskateboardblödmann aus. Ich machte, dass ich auf die andere Straßenseite kam.
Am Bahnhof hab ich mich nicht groß aufgehalten, ich bin einfach durchgerannt – und wurde enttäuscht:In der Stadt waren die ganzen bunten Lichter weg. Nur am Bankhochhaus sauste das Feuerrad noch rauf und runter, aber das kannte ich schon. Ich lief weiter.
Vor dem Kaufhaus zählte ein Gitarrenspieler sein Geld.
"Hast du schon zu?", fragte ich ihn.
"Ja, Schluss für heute."
Das war blöd, wo ich doch gerade erst gekommen war.
"Schade, ich bin gerade erst gekommen. Kannst du nicht noch ein Lied spielen?"
"Was zahlst du?"
Noch mal blöd, Geld hatte ich natürlich keins mit. Außerdem hatte ich vergessen, einen Anorak anzuziehen. Das merkte ich erst jetzt, weil ich keine Taschen hatte, in denen ich zum Schein nach Geld wühlen konnte. Trotzdem gab ich nicht auf.
"Wieso zahlen? Kinder haben immer freien Eintritt. Außerdem spiel ich Klavier."
"Wie Schröder?"
"Welcher Schröder?"
"Der Freund von Charlie Brown."
"Kenn ich nicht."
"Dann sag deiner Mutter, sie soll dir Charly Brown-Bücher kaufen. Die sind klasse."
"Gut, aber spielst du jetzt ein Lied für mich?"
"Du meinst unter Musikern muss was für lau drin sein?"
"Ja, genau."
"Nein. Irgendetwas musst du mir geben."
Der Mann war zum Verzweifeln, aber mir fiel noch was ein.
"Ich geb dir meine Garfield-Uhr."
"Lass sehen."
Ich krempelte meinen Ärmel hoch.
"Gut, die nehm ich."
Ich wollte sie abnehmen, doch er sagte: "Erst spielen, dann zahlen".
"O.K." sagte ich, und er begann zu spielen.
Das Lied war traurig und schön zugleich, aber es passte nicht in die Stadt. Wir haben vor Weihnachten bei Frau Baumbach in der Musikschule einen Kerzenabend veranstaltet. Da hätte es hingepasst. Hier, wo Leute hin und her liefen, mit klappernden Schuhen, raschelnden Tüten, hier passte es nicht hin.
"Was war das?", fragte ich ihn, als er fertig war.
"Yesterday, von den Beatles."
"Kenn ich nicht", musste ich wieder sagen.
"Sag mal, Kleiner, was hast du nur für Rabeneltern? Kennst Charlie Brown nicht, kennst die Beatles nicht. Überhaupt, wo sind deine Eltern?"
Das kommt davon, wenn man sich mit den Großen einlässt. Irgendwann kommt ihnen ein Kind allein verdächtig vor. Ich griff nach meiner Uhr, um ihn abzulenken.
"Ich muss noch bezahlen."
"Nee, lass man. Das war nur ein Test, ob du bereit bist, etwas für die Musik herzugeben. Aber nun sag, wo sind deine Eltern?"
"Da hinten ist Mama, ich muss los", rief ich und rannte weg.
Ich hab mich nicht umgeschaut – das hätte mich verraten –, ich bin einfach bei der nächsten Frau stehen geblieben. Die kuckte mich an. Ich sagte "Hallo" und lief weiter.
Vor einem Laden sah ich drei Frauen auf einen Mann warten, der die Tür abschloss. Komisch, bei uns muss Papa immer auf Mama warten, weil sie "nie in die Gänge kommt", wie mein Papa immer sagt. Dabei vergisst er, dass nur sein Auto Gänge hat, Mama nicht. Das mit dem Auto weiß ich, weil ich mal schalten durfte. Ich kam aber auch nicht in die Gänge.
Der Laden daneben verkaufte Schmuck und war glitzerhell. Eine Frau zählte Geldscheine an der Kasse, eine andere schaute nach draußen. Ich glaub, sie träumte, dass sie woanders wär.
Mir wurde klar, dass ich eine neue Strategie brauchte (ja, Strategie!). Je weniger Leute in der Stadt herumliefen, je mehr Geschäfte zumachten, umso auffälliger wurde ein Kind ohne Mama und ohne Anorak. Etwas müde war ich auch schon, aber gesehen hatte ich noch lange nicht genug. Außerdem, wenn ich jetzt schon nach Hause gegangen wär, dann hätt ich ja die Prinzessin verpasst.
Ich hatte Glück. Da war ein großes Geschäft, die Fenster mit Papier beklebt. Um den Eingang stand ein Holzzaun, der Holzzaun hatte eine Lücke, und als keiner kuckte, fitschte ich hinein.
Das Versteck lag strategisch günstig (Strategie!): ich konnte die Straße beobachten, ohne dass mich die Leute bemerkten. Das wusste ich ganz genau, nachdem eine Oma-Armee vorbeigegangen war. Omas sehen alles, zumindest unsere Oma. Sie redet mit meiner Mama, kuckt dabei Fernsehen, weil sie ihre Lieblingsserie nicht verpassen darf und weiß sofort, wenn ich etwas Verbotenes in meinem Zimmer mache. Dann heißt es gleich: "Mirja, kuck doch mal, was der Junge in seinem Zimmer macht." Mirja ist meine Mama. Die Oma-Armee entdeckte mich nicht, also war ich sicher.
Ich saß im Dunkeln, beobachtete die Leute, die aus den leuchtenden Geschäften kamen, sah wie die Verkäuferinnen die Türen schlossen – und schlief ein.
Nein, ich hab eine Idee. Ich schlief nicht ein – ich zog durch das Land ohne Licht und Schatten zu den Traumburgen. Na, wie klingt das? Vielleicht könnte man einen Wettbewerb für Kinder daraus machen: Schreibt eine Geschichte über eure Reise durch das Land ohne Licht und Schatten zu den Traumburgen und gewinnt eine Kutschfahrt um Mitternacht mit der Prinzessin.
Bis zu den Traumburgen hab ich's nicht geschafft. Erst dachte ich, unsere Oma hätte mich erwischt, doch es war nur ein alter Mann, der auf der anderen Seite gegen den Zaun rumste. Das wusste ich aber erst nachher. Vorher war ich so schreckstarr wie ein Igel im Autoscheinwerferlicht. Das hab ich mal im Fernsehen gesehen: Die laufen einfach nicht weg.
Ich bin aber doch weggelaufen. Nachdem ich gelauscht und gelauscht hatte, hörte ich auf der anderen Seite ein leises Schnarchen. Ich kuckte durch die Zaunlücke: rechts war niemand, links war niemand, da bin ich durchgefitscht.
Ich rannte bis zum nächsten Blumenkübel und ging dahinter in Deckung. Ich spähte über den Kübelrand: vor dem Zaun lag ein bärtiger Mann, in der rechten Hand eine grüne Flasche, in der linken eine Einkaufstüte.
Vom Kirchturm gab es einen Gongschlag. Ich schaute auf die Uhr: viertel nach zehn. Viertel nach zehn! Und ich war noch auf und allein in der Stadt. Ha!
Gerade wollte ich aufstehen, um mir den alten Mann näher anzuschauen, als plötzlich jemand laut rief: "Hallo!". Blitzschnell duckte ich mich. Aber es war nur ein Mann mit Handy. Ich spähte ihm nach bis er an der nächsten Ecke abbog.
Wenn ich ehrlich bin, hatte ich jetzt genug. Einmal noch die Einkaufsstraße lang, durch den Bahnhof und dann nach Hause. Das nahm ich mir vor. Es kam aber anders – wegen der Prinzessin.
Sie erwischte mich, als ich hinter einer Mülltonne hockte und einer Frau beim Putzen in einem Kleidergeschäft zusah. So spät noch putzen. Ich dachte immer, nur meine Mama ist ein bisschen verrückt mit dem Putzen.
Plötzlich stand sie hinter mir. Ich mein die Prinzessin, nicht meine Mama. Wie sie sich angeschlichen hat, weiß ich nicht, aber es roch auf einmal so komisch und eine Stimme sagte: "Hey, Kleiner, was machst du denn noch hier?"
Ich drehte mich um. Die Frau hatte auch eine Einkaufstüte mit - wie der alte Mann -, ihre Jacke war schmutzig und ihre Schuhe sehr groß.
"Ich such meine Mama."
"Und wo hast du sie zuletzt gesehen."
"Zu Hause."
Kaum war mir die Antwort rausgerutscht, da wusste ich, wie blöd sie war. Die Prinzessin hat das sofort kapiert.
"Bist wohl ausgebüchst, Kleiner?"
Darauf gab es nichts zu sagen. Mich ärgerte mein Fehler und mich ärgerte, dass sie mich Kleiner nannte. Ich bin ein Wunderkind. Ich wurde wütend.
"Du stinkst."
"Spricht man so mit einer Prinzessin?"
"Eine Prinzessin stinkt nicht."
"Hast du noch nie davon gehört, dass sich eine Prinzessin in Verkleidung unters Volk mischt?"
Doch, sowas hatte ich schon gehört. Aber ich war immer noch sauer und wollte nichts zugeben.
"Du bist aber keine Prinzessin."
Sie schaute mich ernst an und sagte: "Ich kann es beweisen. Komm mit."
Wir gingen ohne was zu sagen Richtung Bahnhof. Nur einmal fragte die Prinzessin: "Weißt du noch den Weg nach Hause?"
"Klar", sagte ich.
"Gut", sagte sie, "dann zeig ich dir was."
Sie hielt mir ihre Hand hin und ich nahm sie.
Im Bahnhof war nicht viel los. Die Geschäfte dunkel, die Halle hell. Drei Große saßen mit Stachelhaaren in Rot und Grün auf dem Boden vor dem Supermarkt. Die Prinzessin ließ mich bei den Gepäckfächern warten und kam mit einer Sporttasche zurück. Ich sah sie fragend an.
"Hier geht’s nicht", sagte sie. "Lass uns zur Stadtpark-Station gehen."
"Warum geht es hier nicht?"
"Hier sind mir zu viele Menschen, im Stadtpark ist jetzt keiner mehr. Schließlich soll das ein Geheimnis bleiben. Mist."
Zwei Bahnhofs-Aufpasser kamen auf uns zu.
"Na, Hilde, haste Nachwuchs gekriegt?", sagte der eine.
"Nee, ich bring ihn nur nach Hause. Hat sich wohl verlaufen."
"So?"
Er schaute uns zweifelnd an, ich musste was tun.
"Ja", sagte ich, "und meine Mama freut sich bestimmt, wenn ich nach Hause komm."
"Wo wohnt denn der Kleine?" fragte der andere.
"Heinrichstraße 7", antwortete die Prinzessin. "In fünf Minuten sind wir da. Übrigens schlagen da hinten beim Edeka ein paar Punker ihre Zelte auf. Vielleicht solltet ihr euch mal um die kümmern."
"Gut, Hilde, aber mach keinen Unsinn", sagte wieder der erste und sie gingen an uns vorbei, um sich die mit den bunten Haaren vorzuknöpfen.
"Du weißt doch gar nicht, wo ich wohne", sagte ich, als die beiden Aufpasser weg waren.
"Das hab ich doch nur gesagt, damit sie nicht die Polizei rufen", zischelte die Prinzessin.
"Hilde ist aber kein Prinzessinnenname", setzte ich noch einen drauf.
"Nein, natürlich nicht. Mein richtiger Name ist – aber das bleibt unter uns – Clarissa Prinzessin von Lippeland."
Na, d a s war ein Prinzessinnenname.
Gleich hinterm Burgtor bogen wir links in den Stadtpark ab. Im allerersten Moment dachte ich, auf der großen Liegewiese am See wären überall Maulwurfshügel, aber dann hoppelte plötzlich so ein "Hügel" weiter. Über die ganze Wiese verteilt saßen Kaninchen und futterten. Ich hatte leider keine Zeit, sie mir anzuschauen, weil die Prinzessin furchtbar in Eile war und mich weiterzog.
Dann auf dem breiten Weg vom Stadtpark-Hotel zur U-Bahn-Station hatte ich’s auf einmal eilig, denn ich hatte was ganz Tolles entdeckt. Wenn wir an einer Laterne vorbei waren, kam plötzlich von rechts ein Schatten herbeigesaust, überholte uns, ging voraus, wurde lang und länger und verschwand, bevor wir an der nächsten Laterne ankamen. Und dann passierte wieder das gleiche Spiel, ein paar Schritte, summ, kam der Schatten, wurde lang und länger und blupp war er weg. Jedes mal dipp, dipp, dipp: ein paar Schritte, summ: der Schatten und blupp: war er weg. Dipp, dipp, dipp, summ, blupp. Dipp, dipp, dipp, summ, blupp. Jetzt war ich es, der die Prinzessin voranzog. Sie verstand gar nicht, was daran so toll war, als ich sagte: "Kuck, der Schatten."
Sie sagte nur "Ja, ja" und kuckte nicht mehr hin.
An der Stadtpark-Station schaute die Prinzessin auf den Fahrplan.
"Hast du eine Uhr?", fragte sie mich.
"Ja, 10 Uhr ... nein, 22 Uhr 48", sagte ich.
Sie schaute noch mal auf den Plan.
"Gut, dann haben wir zwanzig Minuten Zeit, bevor die nächste Bahn kommt."
"Wofür?"
Sie grinste mich an: "Du wolltest ja nicht glauben, dass eine Prinzessin vor dir steht. Jetzt werd ich’s dir zeigen. Los, komm."
Wir gingen die Treppe hinunter und kamen zu einem Gang mit ein paar Automaten. Zwei Rolltreppenröhren führten zum Bahnsteig. Die Rolltreppen standen still.
"Wir machen folgendes", sagte die Prinzessin. "Du fährst runter zum Bahnsteig. Wenn unten keiner ist, dann setz die Rolltreppe aufwärts in Bewegung."
"Und wie?", fragte ich.
"Ganz einfach", sagte die Prinzessin und ging auf eine der beiden Rolltreppen zu, die plötzlich mit einem Staubsaugergeräusch losging.
"Einfach auf die Metallplattform davor treten, dann geht das Ding los."
"Gut, und wann kommst du?"
"Gib mir 10 Minuten und dann wirst du eine Prinzessin sehen. Versprochen", sagte die Prinzessin.
Nach der Hälfte der Rolltreppe konnte man auf den Bahnsteig runter kucken. Da war niemand. Unten angekommen trat ich auf die Metallplatte vor der anderen Rolltreppe und schwupp ging sie ab.
Die Stadtpark-Station ist wie eine große Halle. Die Decke bestimmt zehn Meter hoch, und an der Decke hängen riesige blaue Glühbirnen. Ich setzte mich auf eine Bank und merkte, dass ich wieder müde wurde.
Plötzlich stoppte meine Rolltreppe und ganz kurz danach auch die andere, was ja eigentlich nicht sein durfte, weil ich die andere Rolltreppe erst zwei Minuten später oder so gestartet hatte. Nun war es ganz still in der großen Halle, auch von der Prinzessin war nichts zu hören.
Ich spürte wie ich müder und müder wurde. Das berühmte Land ohne Licht und Schatten lockte wieder. Ich stand auf, machte ein paar Trampelschritte, die durch die Station hallten.
Obwohl die Halle hell erleuchtet war, fand ich’s dort unheimlich. Ich war nahe dran wieder hochzufahren, als sich eine Rolltreppe abwärts in Bewegung setzte.
Ich war gespannt wie ein Brötchen, was die Prinzessin sich ausgedacht hatte. Zuerst sah ich goldene Schühchen, dann einen goldenen Rock. Ich wollte erst gar nicht glauben, dass diese Prinzessin und die Prinzessin-Behaupterin die gleiche Person waren. Ihr Gesicht war nicht mehr so rot, sondern strahlend weiß; das Haar nicht mehr kurz und grau, sondern lang und blond; im Haar steckte zwar keine Krone, aber ein glitzernder Schmuckreifen. Sie war es wirklich, sie hatte ihre Plastiktüte dabei.
"Nun, junger Mann, gibt es noch irgendeinen wahrhaften Zweifel Ihrerseits?", fragte die Prinzessin. Ich war nur noch sprachlos – und dann kam die Polizei.
"Die sieht man auch nur, wenn man sie nicht braucht", sagt mein Papa immer, wenn ein Polizeiauto vorbeifährt.
Sie waren noch gar nicht ganz unten, da rief der eine: "Sieh an die Hilde, machste jetzt auf Kindesentführung mit Theatereinlage?"
Die Prinzessin sagte nichts, sie kuckte nirgendwo hin. Klar, da musste ich die Prinzessin verteidigen.
"Stimmt ja gar nicht. Außerdem ist das nicht die Hilde, sondern Clarissa Prinzessin von Li..." Uh, da hatte ich’s schon verraten. Die Polizisten lachten. Ich kuckte vorsichtig zur Prinzessin hoch, aber die schien nichts mehr zu hören und zu sehen.
So blieb es, während die Polizei mich nach Hause brachte. Die Prinzessin schaute nur so vor sich hin. Jetzt sah ich, dass sie weißes Puder im Gesicht hatte, aber echt war sie trotzdem, allein schon wie sie gesprochen hatte: "Gibt es irgendeinen wahrhaften Zweifel Ihrerseits?". Sie roch auch ganz anders. Ungefähr so wie Papa, wenn er mit Mama ausgehen will und sie mich mit dieser blöden Anke alleine lassen.
Ich wurde wieder schläfrig. Es war sehr bequem auf dem Rücksitz des Polizeiautos. Irgendwann merkte ich, wie mich einer der Polizisten aus dem Wagen hob, und dann hörte ich Mama plötzlich schreien: "Thomas!". Aber richtig wach wurde ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass der Polizist fragte, wie alt ich bin. Und meine Mama sagte: "Im Sommer wird er sechs. Dann kommt er in die Schule." Und der Polizist sagte: "Na, da werden sie ihm diese Geschichten schon austreiben." Und ich dachte: "Mir die Geschichten austreiben? Niemals. Ich bin ein Wunderkind." Und dann zog ich endlich ganz und gar in das Land ohne Licht und Schatten, und diesmal schaffte ich es sogar bis zu den Traumburgen, wo die Prinzessin schon auf mich wartete.
 
Anmerkungen:
"Ich und die Prinzessin" ist mein Wettbewerbsbeitrag zu einer Ausschreibung, die das Thema "Licht, Stadt, Schatten" vorgab. Immerhin stellte ich unter erschwerten Bedingungen (im August wird's erst spät dunkel) einige Recherchen zum Leben in der Stadt nach Geschäftsschluss an. Lohn der Mühe war ein geteilter vierter Platz zusammen mit allen anderen Geschichten, die keinen Preis gewannen;-)
Probeläufe
100 m
200 m
400 m
800 m