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Das Wunder zu Weihnachten
Es war am ersten Weihnachtstag. Ich stand auf dem Bahnsteig, wartete auf die S-Bahn, als mir die beiden zum ersten Mal auffielen. Sie gingen nebeneinander im Sauseschritt zum Warteraum. Es war verflucht kalt, aber wie ich später feststellte, war Sauseschritt ihr Normalzustand. Sie waren zwischen 25 und 35, schwer zu schätzen. Der eine ganz in rot – rote Jeans, rote Skijacke – hatte einen Schnäuzer. Der andere hatte langes, dunkelbraunes Haar, trug ein Stirnband, schwarze Jeans und eine lila Skijacke. Braungebrannt sah er indianisch aus.
Zunächst kümmerte ich mich nicht um die beiden. Wer konnte auch ahnen, dass sie für das diesjährige Weihnachtswunder zuständig waren. Nur einmal, als ich zum Warteraum schaute, sah ich den Indianer eine Zigarette drehen, ein Knie auf der Sitzbank, zum Fenster gewandt, während der rote Schnäuzermann dicht an ihm klebte und zuguckte.
Dann kam die S-Bahn. Ich sah die beiden aus dem Warteraum auf den Bahnsteig rauschen. Sie stiegen noch vor mir ein und setzten sich mit ihren Zigaretten auf die nächsten Plätze in Türnähe. Da ich nur eine Station zu fahren hatte, blieb ich an der Tür stehen. Der Indianer merkte, dass er in einem Nichtraucherwagon saß und schnippte die halbgerauchte Zigarette durch die Tür. Der Schnäuzermann rauchte weiter. Bis zur nächsten Station rauchte er die dünne Zigarette bis auf einen halben Zentimeter herunter.
Es war wirklich verdammt kalt. Ich drückte auf den Tür-schließen-Knopf. Kurz darauf gingen auch die anderen Türen zu, und die S-Bahn fuhr los, dem Wunder entgegen.
Die beiden – kleine Knöpfe übrigens, höchstens 1,70 groß – saßen sich vorgebeugt gegenüber, die Köpfe fast zusammengesteckt. Ich bekam von ihrer Unterhaltung nur Bruchstücke mit.
Einmal sagte der Schnäuzermann: "Sowas darfst du nie zu mir sagen." Und der Indianer beschwichtigte ihn, dass er sowas jetzt nicht mehr sagen würde. Damals hätte er ihn noch nicht so gut gekannt. "Du weißt wie das ist."
Der Schnäuzer saugte an seiner Zigarette und stieß eine dichte Rauchwolke aus. Man sah einigen Fahrgästen an, dass ihnen die Qualmerei nicht gefiel, aber niemand sagte etwas.
Dann hörte ich den Indianer sagen: "Ich hab dir von sechs vier abgegeben. Andere hätten das nicht gemacht. Die hätten dir nur eine abgegeben."
"Ja, eine oder zwei", erwiderte der Schnäuzer.
Plötzlich sagte der Indianer: "Komm."
Sie wechselten zu den Sitzen auf der anderen Fensterseite des Zuges. Wieder setzten sie sich einander gegenüber, die Köpfe fast zusammengesteckt, nur diesmal saß der Indianer in Fahrtrichtung. Dann begann die Bahn langsam abzubremsen. Die beiden sprangen auf, kamen zu meiner Tür, der Indianer voran nahm die Türhebel in Beschlag. Er klapperte mit den Hebeln und kaum dass der Zug stand, öffnete er die Tür. Die beiden flitzten an mir vorbei hinaus, eng nebeneinander gehend. Ich ging hinter ihnen die Treppe herunter. Sie verschwanden um die Ecke, näherten sich dem Ort des Wunders.
Als ich den Gang zur Bahnhofshalle erreichte, hörte ich den Schnäuzermann sagen: "Gib mir 'ne Mark für den Automaten. Krisse gleich wieder."
"Datt is' aber die letzte", sagte der Indianer.
"Nee, nee", sagte der Schnäuzermann, "krisse gleich wieder."
Dann sah ich die beiden erneut. Der Indianer kämmte sich vor dem Spiegel des Passbildautomaten die Haare, und der Schnäuzermann fummelte am Süßigkeitenautomaten herum.
Ich ging an ihnen vorbei zur Bahnhofshalle. Mein Bus war noch nicht da. Da draußen ein eisiger Wind herrschte, blieb ich im Haupteingang stehen. Ich blickte zurück zum Gang. Die beiden kämpften gemeinsam mit dem Süßigkeitenautomaten, doch die Münze fiel immer wieder durch.
Ich schaute noch mal nach meinem Bus. Nichts. Als ich wieder zurückblickte, waren die zwei vor dem Blumenladen in der Bahnhofshalle mit den Weihnachtsgestecken beschäftigt. Ich wunderte mich, weil sie mir nicht nach Leuten aussahen, die jemandem Grünzeug zum Weihnachtsbesuch mitbrachten. Sie wuselten zwischen den Gestecken herum, mal hob der eine etwas hoch, mal der andere. Schließlich entschieden sie sich für einen kleinen Korb mit Nadelzweigen und roten Schleifchen, der in eine Zellophanhülle eingepackt war.
Der Indianer stand mit dem Rücken zum Blumengeschäft, stellte den Korb auf den Boden, mit einer blitzschnellen Bewegung holte er ihn wieder hoch, die beiden schlossen sich mit dem Rücken zum Geschäft zusammen und gingen im Sauseschritt zum Seitenausgang des Bahnhofs ab. Obwohl das schon eher zu ihnen passte, war ich verblüfft. Hatte niemand etwas bemerkt?
Doch dann kam ein Mann – Mitte 30, graublauer Anorak – aus dem Blumenladen und rief: "Hey!"
Die beiden reagierten nicht.
Dann rief er: "Wir treffen uns noch mal."
Der Indianer blickte im Gehen zurück. Der Anorakmann hob grüßend die Hand. "Darüber reden wir ein ander' Mal."
Jetzt schaute sich auch der Schnäuzermann um und rief: "Wir haben nix."
Der Anorakmann wiederholte: "Darüber reden wir ein ander' Mal."
Indianer und Schnäuzer eilten weiter zum Seiteneingang raus. Der Anorakmann senkte die Hand und ging in den Laden zurück.
Ich schaute wieder nach meinem Bus. Immer noch nichts. Nach weiteren zwei Minuten kam immer noch kein Bus, aber die beiden stürmten Seite an Seite zum Haupteingang hinein. Ich blickte ihnen hinterher.
Der Anorakmann kam aus dem Blumenladen. Der Schnäuzer stellte den Korb wieder auf seinen Platz. Der Indianer reichte dem Anorakmann über die ausgestellten Gestecke hinweg die Hand.
"Nichts für ungut", sagte der Indianer.
Da kam mein Bus.
 

Anmerkungen:
Mein Nachhilfeliteraturlehrer sagt immer "Es war wirklich so" ist literarisch gesehen kein Argument, aber hier war's nun mal wirklich so. Ich musste nur aufschreiben, was ich sah; das Wunder hat wirklich stattgefunden. Aber wie gesagt: das ist wirklich kein Argument für Weihnachten.
PS: Die Geschichte in einem Video erzählt gibt's bei Youtube.

Tipps:
Weihnachtsgedichte beim Lyrikmond

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